Es ist unübersehbar: Die künstlerische Freiheit in der Türkei wird immer stärker eingeschränkt. Allein in den letzten Wochen wurden von den Behörden reihenweise Konzerte, Theaterveranstaltungen und Ausstellungen kurzfristig verboten, weil sie angeblich nicht der türkischen gesellschaftlichen Auffassung entsprechen. Diese Eingriffe geschehen meist kurz vor Beginn, auffallend in Kommunen mit AKP-Verwaltungen. Zwar waren Kulturschaffende und Künstler schon immer im Fadenkreuz der regierenden AKP-Partei, aber das Maß der Behinderung, die Verbotswelle, die Eingriffe durch Zensur und Diffamierung haben eine ganz neue Qualität und Größenordnung. Aktuell erleben wir durch die massive Behinderung eine tiefgehende Spaltung zwischen den säkularen kulturellen und den eher nationalreligiös orientierten Gruppen. Sie wird von Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP bewusst betrieben, um durch die Polarisierung vor allem die Freiheit der Kultur zu treffen, die als unmoralisch und verräterisch dargestellt wird. Es trifft auch Minderheiten, insbesondere Kurden. Auch die vor dem Krieg in Syrien Geflüchteten mit mehr als vier Millionen machen inzwischen einen signifikanten Anteil der Bevölkerung aus. Das ist das Dilemma der Türkei: der immer tiefer werdende Graben in der Gesellschaft, der einerseits bei den Kulturschaffenden zu einer großen Solidarität führt und andererseits die Abwehrkräfte starrer gesellschaftlicher Auffassungen gegen Veränderungen noch weiter unversöhnlich stärkt.  

Die Ursachen für dieses rabiate Vorgehen sind wohl die anstehenden Wahlen 2023 zum Präsidentenamt und zum Parlament, die spätestens in zehn Monaten stattfinden müssen. Die AKP liegt bei den Umfragen bei weniger als 30 Prozent, ein Sieger sieht anders aus. Die Regierung Erdoǧan steht unter Druck. Die Zahl der Neuwähler ist hoch. Und gerade dort herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Offiziell liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei ca. 25  Prozent. Die Türkei leidet unter einer Hyperinflation von offiziell 54 Prozent, die Lira ist im Sinkflug. Ob die außenpolitischen Erfolge ausreichen, dies auszugleichen, ist fraglich, auch wenn Erdoğan die momentane Weltlage, auch mit Russland, strategisch klug nutzt. Der Wahlkampf hat schon längst begonnen. 2023 feiert die Türkei zudem ihr 100-jähriges Bestehen. Damit will man innenpolitisch punkten und schließt deshalb die Reihen so eng wie möglich und lässt keine Veränderungen zu. Die Medien sind überwiegend schon auf Linie in ihrer regierungstreuen Berichterstattung. Gegen Erdoğan wird ein sehr heterogenes Sechs-Parteien-Bündnis antreten, das Chancen haben könnte. Bisher liegt jedoch noch kein gemeinsames Programm vor. Das derzeitige Wahlrecht, bei dem sich mehrere Parteien zu einem Block zusammenschließen können, wird wohl im April abgelöst durch ein Verfahren, bei dem jede Partei einzeln antreten muss und der neuen Sperrklausel von sieben Prozent unterliegt. Es werden also überall Hürden aufgebaut, um der Regierungspartei Vorteile zu verschaffen. 

Bildung und Kultur sind die Elemente, die Gesellschaften verändern können und starre Verhaltensmuster hinterfragen. Es ist daher eine demokratische Aufgabe von Staaten und seiner Kulturmittler, Kunst und Kultur nicht nur zu verteidigen, sondern Räume zu schaffen, in denen sich Kunst frei entfalten und sich öffnen kann. Diese Innovationskraft zur Erneuerung wird in der Türkei bewusst unterbunden. So wurde z. B. inzwischen ein Hochschulgesetz verabschiedet, mit dem die Autonomie aller Universitäten abgeschafft wurde. Zahlreiche Akademiker und Angestellte an Hochschulen wurden als Vaterlandsverräter, insbesondere nach dem Putsch von 2016, in großem Umfang entlassen, Intellektuelle kriminalisiert. Staatliche Förderung erhalten freie Einrichtungen kaum, Förderstrukturen fehlen. Andererseits kommen neue künstlerische Impulse fast ausschließlich von ihnen. Die noch bis vor Kurzem vibrierende Kulturszene wird sowohl durch die Währungskrise mit ihren explodierenden Kosten und den abnehmenden Zuschauerzahlen als auch durch den politischen Druck ausgezehrt und isoliert. Der Austausch mit der Welt leidet darunter massiv. Es kommen immer weniger ausländische Künstler in die Türkei, ebenso sind die Zeiten vorbei, in denen türkische Kulturschaffende ins Ausland reisen konnten. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass türkische Start-ups boomen, nicht selten aus dem Sektor der Kultur- und Kreativindustrie, finanziert durch internationale Investoren. 

Auch die deutsch-türkischen Beziehungen haben sich in der letzten Zeit verschlechtert, obwohl hier traditionell eine enge Zusammenarbeit besteht. Gegenwärtig leben ca. drei Millionen Menschen in Deutschland, die ihre Wurzeln in der Türkei haben. Das schafft eine besondere Nähe zwischen den Ländern. Ungeachtet des Stimmungswechsels setzen die Goethe-Institute in Istanbul, Ankara und Izmir gemeinsam mit ihren Partnerinstitutionen ihre Arbeit fort. Eine direkte politische Einflussnahme auf die Arbeit gibt es nur im Bereich der Bildung. Das Erziehungsministerium verlangt mehr und mehr Programmanpassungen an die religiösen Grundwerte. In der Kulturarbeit gibt es noch keine direkte Zensur oder Einmischung. Die Bedeutung von physischen Räumen hat im angespannten politischen Raum zugenommen. Sie sind entscheidend für die unabhängige kulturelle Zivilgesellschaft, innerhalb und außerhalb der großen Städte. Deshalb öffnen Goethe-Institute zunehmend ihre Häuser für Gruppen, die ansonsten abgewiesen werden. Von Bedeutung ist das Projekt »Orte der Kultur«. Es wendet sich durch die Anmietung von Ladenlokalen an Kulturakteure und lokale Einrichtungen mit dem Ziel der direkten Kulturarbeit und Vernetzung. Die von der EU geförderte Initiative »Culture Civic« unterstützt Kulturakteure im ganzen Land über die Vergabe von Grants. Ein bedeutender Schritt war 2011 die Gründung der Kulturakademie Tarabya in Istanbul, betrieben von der Deutschen Botschaft, in der kuratorischen Verantwortung des Goethe-Instituts. Seit 2020 werden auch deutsch-türkische Koproduktionsstipendien vergeben und vermehrt Exkursionen der Kulturakademie auch außerhalb der Ballungszentren durchgeführt. Das jährliche Sommerfestival in Tarabya zieht mehr als 1.000 Besucher an. Diese Strahlkraft gibt Hoffnung, auch durch das umfangreiche Alumni-Konzept. 

Die aktuell im Haushaltsentwurf 2023 beabsichtigten drastischen Haushaltskürzungen der deutschen Bundesregierung für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik würden die jetzt noch existierenden gemeinsamen kulturellen Freiräume erheblich einschränken oder sogar eliminieren und damit die Zivilgesellschaft schwächen, nicht nur in der Türkei, sondern überall dort, wo die Politik gegen die Kultur arbeitet. Das wäre ein Fiasko. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2022.