Frankfurt ist bekanntlich ein bedeutender Ort der Demokratiegeschichte. 1848 trat in der Paulskirche erstmals ein gewähltes gesamtdeutsches Parlament zusammen. Vor welchen Aufgaben steht die Demokratie heute? Und wie lässt sie sich mittels Kulturpolitik stärken? Im Gespräch mit Theresa Brüheim gibt die Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig Auskunft.

Theresa Brüheim: Frau Hartwig, welche kulturpolitischen Themen stehen aktuell bei Ihnen in Frankfurt oben auf der Agenda?

Ina Hartwig: Das sind einige, aber ich möchte mich auf ein Thema besonders konzentrieren, das uns bundesweit alle beschäftigt: Wie kann die Demokratie gestärkt werden in einer Zeit, in der sie so massiv angegriffen wird? Wir haben in Frankfurt dieses Jahr 175 Jahre Paulskirchenparlament gefeiert und entdecken den geschichtsträchtigen Bau als bedeutendes Symbol unserer Stadt und für ganz Deutschland wieder. Dieses wichtige historische Kapitel ist untrennbar mit dem Blick nach vorne verbunden – also mit der Frage, wie sich die Demokratie im 21. Jahrhundert weiterentwickeln kann und muss. Dazu gehört auch das geplante Haus der Demokratie, das von einer gemeinsamen Stiftung von Bund, Land und Stadt getragen werden soll. Das ist ein äußerst interessantes Projekt, das mit seiner ortsspezifischen Historie in Frankfurt verankert ist, aber darüber hinaus ein bedeutendes Kapitel der deutschen Demokratiegeschichte markiert: Was ist die Geschichte unserer deutschen Demokratie? Wer hat wann, wo und wie gekämpft? Wofür wurde gekämpft, was wurde errungen? Das ist hochspannend und hat direkte Auswirkungen auf uns Nachgeborene. Heute sind wir nur scheinbar in einer komfortableren Lage als unsere Vorfahren, denn die Demokratie ist vielfach herausgefordert. Vor allem müssen wir ihre Vorteile herausstellen. Frankfurt ist möglicherweise ein Schaufenster in die Zukunft unseres Landes. Sie ist nicht nur eine junge, sondern eine sehr diverse Stadt, die zugleich in vielerlei Hinsicht erfolgreich ist. Genau mit diesen jüngeren Generationen wollen wir den Wert der Demokratie verständlich machen, sie sollen ihn in die Zukunft tragen. Insofern ist es wichtig, Orte zu entwickeln, die einerseits Identität stiften und andererseits jungen Menschen und allen Interessierten die Praxis der Demokratie vermitteln. Demokratie ist mehr als einfach Kontroverse. Demokratie hat vielmehr mit Verfahrensfragen, mit der Organisation von Parlamenten, mit Gewaltenteilung, mit Rechten und Pflichten zu tun, um Freiheit zu gewährleisten. Das ist keine Kleinigkeit und auch nicht nebensächlich. All diese Dinge können hier auf eine sehr schöne, anregende Weise vermittelt und weiterdiskutiert werden.

Können Sie ein Beispiel für kulturelle Angebote nennen, die Sie in Frankfurt anbieten?

Die Vielfältigkeit unseres kulturellen Angebots ist die Antwort auf eine vielfältige Gesellschaft. Besonders hervorheben möchte ich das Kultur- und Freizeitticket, das es nur in Frankfurt gibt und das bundesweit einmalig ist: Junge Menschen haben die Möglichkeit, mit diesem Ticket all unsere Museen und den Zoo kostenfrei bis zum 18. Lebensjahr zu besuchen. Wenn das Elternhaus unter 4.500 Euro netto verdient, erhalten die Kinder es umsonst. Bei über 4.500 Euro netto Verdienst müssen 29 Euro pro Jahr gezahlt werden. Dieses sogenannte KUFTI ist ein zentrales Instrument unserer Kulturpolitik, um den Zugang im Sinne der grandiosen Tradition von Hilmar Hoffmanns »Kultur für alle« weiterzuentwickeln. Und die große Resonanz auf dieses Angebot gibt uns recht.

Welche Rolle spielt die Stadtteilkultur in Frankfurt bei dem Ziel der Kultur- und Demokratieförderung für alle?

Wir haben in der Innenstadt natürlich eine Konzentration von Museen und Kultureinrichtungen, gehen aber mit den Kulturangeboten bewusst in die Stadtteile, um das Kulturangebot zu verbreitern und in verschiedene Richtungen zu lenken. Die Stadtteilkultur lebendig zu halten ist eine große Aufgabe, die sich nicht immer einfach gestaltet. Es gibt z. B. im DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum das Angebot »360 Grad«, das Kulturarbeit für Frauen in Stadtteilen mit hohem Migrationsanteil anbietet, wo diese Angebote dringend gebraucht werden. In einem Café haben wir beispielsweise einen Treffpunkt eingerichtet, der Frauen ermuntert, ins Museum zu gehen, dort Filmarbeiten zu machen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Es ist mir sehr wichtig, den Menschen in sämtlichen Stadtteilen zu vermitteln: Alle sind willkommen in unseren Kultureinrichtungen. Das funktioniert aber nur, wenn es keine paternalistische Geste ist, sondern eine echte Einladung in einem professionellen Setting.
Wir haben schon gehört, was die Frankfurter Stadtgesellschaft ausmacht. Doch was kennzeichnet die Frankfurter Kulturszene? Und wie ist sie nach der Pandemie und im bevorstehenden zweiten Winter der Energiekrise aufgestellt?
Die Coronazeit war für Kulturschaffende, insbesondere für die Freischaffenden, bekanntlich eine ganz schwierige Zeit. Die Verdienstausfälle haben zu existenziellen Einbrüchen geführt. Wir haben kurzfristig einen Notfallfonds in der Kultur aufgelegt und Geld zur Verfügung gestellt, unterstützt von Frankfurter Stiftungen. Wir wurden also nicht allein gelassen, sondern haben Solidarität erlebt. So konnten wir Kulturschaffende ein Stück weit auffangen. Dennoch war die moralische Auswirkung für Kultureinrichtungen, die auf einmal schließen mussten, dramatisch. Nach Corona war es schwer, die Besucher wieder zurückzubekommen. Viele Menschen haben ihre Abos gekündigt. Sie sind spontaner und das kulturelle Konsumverhalten individualistischer geworden. Wäre es nur Corona gewesen, würden wir als Stadt Frankfurt in der Kulturszene sehr gut dastehen. Aber hinzukommt, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Folgen der extremen Preissteigerungen im Energiebereich und die Inflation die Stadt Frankfurt vor enorme Herausforderungen stellen, die auch die Kultur betreffen. Mit Blick auf die Gesamtgesellschaft sind wir wieder beim Thema Demokratie: Warum ist die Demokratie im Moment so stark angegriffen? Es gibt eine grundsätzliche Herausforderung bis Überforderung durch diese sich überlagernden Krisen. Es ist anstrengend, jeden Morgen im Krisenmodus aufzuwachen. Das wirkt sich auf die Gemütslage der Bevölkerung aus. Das ist schon eine große Schwierigkeit, zumal, wenn sich das mit haushälterischen Herausforderungen kombiniert. Mein Credo ist, dass wir die Infrastruktur, die wir in vielen Jahren aufgebaut haben, unbedingt erhalten müssen.

Ein Highlight dieser kulturellen Infrastruktur in Frankfurt würde ich gern herausgreifen: Frankfurt ist Buchstadt. Sie ist Sitz bedeutender Verlage wie S. Fischer, aber auch des Börsenvereins des deutschen Buchhandels sowie der Frankfurter Buchmesse. Was bedeutet das für Frankfurt? Wie prägt es die Stadt und Ihre Arbeit als Kulturdezernentin?

Wir sind, wie Sie richtig sagen, eine Buch- und Medienstadt mit drei bedeutenden Tageszeitungen und verschiedenen Verlagen. Wir haben den Hessischen Rundfunk. Aber wir sind eben auch Bankenstadt und zudem ein bedeutender Wissenschaftsstandort mit unter anderem der Goethe-Universität. All das zusammengenommen macht Frankfurt aus: diese berühmte Kombination aus Geist und Geld. Wir sind eine internationale Stadt – auch wirtschaftlich. Daraus erwächst eine hohe Dynamik, die sich im Bereich des Geldes wie auch des Geistes zeigt. Zugleich hat die Stadtgesellschaft einen ziemlich konstanten Kern, der die Identität und das Funktionieren dieser Stadt aufrechterhält. Das sehen Sie beispielsweise im Engagement für die Städtischen Bühnen. Understatement ist wichtig: Hier geschieht sehr viel, auch wenn es nicht gleich nach außen gekehrt wird. Wenn es nur die Leuchttürme wären, dann wäre Frankfurt nicht das, was es ist. Nicht zuletzt sind wir eine interessante Ausbildungsregion. Wir haben die international hoch anerkannte Städelschule, die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und die Hochschule für Gestaltung Offenbach. Das heißt, im künstlerischen Bereich werden hier junge Menschen ausgebildet. Viele möchten bleiben und bringen sich in der Freien Szene ein. Das ist großartig, aber eine Herausforderung. Denn wir haben ein Strukturproblem: Wir sind flächenmäßig eine kleine und sehr teure Stadt. Der Bedarf an Raum ist größer als das, was wir bieten können. Wir haben Wachstumsschmerzen. Diese Herausforderung stellt sich inzwischen in vielen europäischen Städten.

Welche weiteren Schwerpunkte setzen Sie beim Thema Erinnerungskultur neben dem Haus der Demokratie in der Frankfurter Paulskirche?

Von Anfang an war Erinnerungskultur einer meiner Schwerpunkte. Hier haben wir bereits neue Akzente gesetzt und die Arbeit vertieft. Denn von der Generation der Zeitzeugen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft sind nur noch wenige am Leben. Insofern ist die Zeit, in der man das unmittelbare Zeugnis hören kann, bald vorbei. Hinzu kommt eine hochdynamische, vielfältige, stark von Migrationsbiografien geprägte Gesellschaft in Frankfurt. Viele Menschen, die nach Frankfurt kommen, haben sich in ihrem bisherigen Leben kaum mit dem Holocaust und der deutschen Schuld befasst. Es gilt aber, sie dafür zu gewinnen, dass die Anerkennung der Schuld zum Kern des deutschen Ethos gehört. Das ist eine Vermittlungsaufgabe, die unbedingt geleistet werden muss, damit die Demokratie in Deutschland sich im 21. Jahrhundert so weiterentwickeln kann, dass wir uns auf einen gemeinsamen Wertekanon als Gesamtgesellschaft einigen. Um ein Beispiel zu nennen: Wir konnten im vergangenen Jahr den Geschichtsort Adlerwerke einweihen. Seit 30 Jahren engagieren sich zivilgesellschaftliche Kreise dafür, dieses Konzentrationslager, das es mitten in Frankfurt in den ehemaligen Adlerwerken gegeben hat, als Erinnerungs- und Gedenkort sichtbar zu machen. Es ist ein verdrängtes Kapitel in Stadtverwaltung und -politik gewesen. Wir haben es endlich geschafft, hier einen professionell konzipierten und betreuten Lernort einzurichten und deutlich zu machen, dass auch dieses KZ-Außenlager zum offiziellen Gedächtnis der Erinnerungskultur gehört.
Da ich ebenfalls Wissenschaftsdezernentin bin, ist das Thema Provenienzforschung hochrelevant für mich. Diese ist aufwendig, aber notwendig. Das Ziel muss sein, im Unrechtskontext erworbene Objekte entweder zu restituieren oder den Verlust zu kompensieren. Das ethnologische Museum in Frankfurt hat im Moment ein sehr gutes Forschungsprojekt zur Provenienz der Objekte und Gegenstände aus dem Königreich Benin. Wir werden sehr wahrscheinlich einige dieser Objekte zurückgeben. Im Kontext des Postkolonialismus ist es in meinen Augen besonders wichtig, dass man zu den Menschen in den Herkunftsländern Kontakte aufbaut und ins Gespräch kommt: Was bedeuten diese Objekte für das jeweilige Land? Welche Vorstellungen gibt es darüber, wie sie präsentiert werden sollen? Das ist kommunikativ, historisch und ethisch eine große Aufgabe, die hier auf die ethnologischen Museen generell in Deutschland zugekommen ist.

Zuletzt noch: Ihr Kulturtipp für Frankfurt?

Das Thema des öffentlichen Raums ist ungeheuer wichtig. Es gilt, den öffentlichen Raum zu sichern, sodass er ein friedlicher, zugänglicher Ort bleibt, an dem nicht zwangsläufig konsumiert werden muss. Das muss noch stärker ins Bewusstsein rücken. Öffentlichkeit und öffentlicher Raum müssen zusammengedacht werden. Wir müssen ihn schützen und ausbauen. Ein gut funktionierender öffentlicher Raum, an dem ich mich wohlfühle, ist das Mainufer mit Blick auf unser schönes Museumsufer. Es ist die Piazza Frankfurts.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.