In Weimar bündeln sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen und europäischen Geschichte auf engstem Raum. Von der Reformation über die Aufklärung und Klassik bis zur ersten parlamentarischen Republik auf deutschem Boden und dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, gefolgt von zwei diametralen Staaten und deren Wiedervereinigung nach 40 Jahren – immer schien sich in dem kleinformatigen Machtzentrum an der Ilm geschichtliches Geschehen mit programmatischen Sinnüberschüssen aufzuladen, die bis heute und weit über nationale Grenzen hinaus wirksam sind. Dabei gingen Macht und Kunst enge Partnerschaften ein. Künstler und Intellektuelle genossen Einfluss und lieferten Rohstoff und Bausteine für die nationalpolitische Memorialkonstruktion des späteren 19. Jahrhunderts, die Weimar zum herausragenden Symbolort der Deutschen machte. Tatsächlich ist hier durch die transepochalen Überlieferungen und Überschreibungen, Rezeptionen und Revisionen ein besonders dichtes, aufschlussreiches Gewebe aus historischen Tiefenbezügen und Querverbindungen entstanden. Und es sind vor allem dessen Ambiguitäten und Antagonismen, die Weimar im Rückblick als ein Experimentierfeld für visionäre Ideen und ihre Kehrseiten im Spektrum des Menschenmöglichen erscheinen lassen.

Die Klassik Stiftung Weimar trägt die Hauptverantwortung für diese disparaten materiellen und immateriellen Erbschaften vor allem zweier Kernepochen der deutschen Kulturgeschichte – der sogenannten Weimarer Klassik und der frühen Bauhaus-Moderne. Getragen und finanziert von der Bundesregierung, dem Freistaat Thüringen und der Stadt Weimar, vereint die öffentliche Stiftung mehr als 20 Museen, Dichterhäuser und Schlösser in und um Weimar, das Goethe- und Schiller-Archiv, die Herzogin Anna Amalia Bibliothek und 140 Hektar historischer Parklandschaften – darunter zwölf UNESCO-Welterbestätten. Damit ist die Stiftung zuständig für Schauplätze und Sammlungen, aber auch Ideen und Weltbilder in Literatur und Philosophie, die für das Selbstverständnis der Gesellschaft bis heute zentral sind.

In ihrer historisch gewachsenen Struktur aus Kultur-, Gedächtnis- und Forschungsinstitutionen versteht sie sich als eine Wissenstopografie, in der sich physische Orte und Ideengeschichte in Zeit und Raum verknüpfen – eine Topografie, die Programm und Selbstverständnis der Stiftung konstituiert. Weimar bietet ideale Bedingungen für ein aktives Verstehen von geschichtlichen Zusammenhängen. Der flanierende offene Modus der Rezeption ermöglicht persönliche Erfahrungen, selbstbestimmtes Lernen und individuelles Verstehen – das, was Goethe Herzensbildung genannt hat. Die sensuellen Qualitäten eines ganzheitlichen Erlebnisraums laden zu Entspannung und Entlastung von Absolutheitsansprüchen ein. Das Parcoursprinzip prägt die seit 2021 eingeführten Themenjahre mit ihrer sich gegenseitig stärkenden Vielfalt von kleineren und mittleren Ausstellungen und Angeboten, begünstigt die offenen Dialog- und Diskursformate für ein breites Publikumsspektrum und prägt die Workshop- und Outreach-Programme bis in den ländlichen Raum. So begründet sich auch der Verzicht auf Blockbusterformate und das Bekenntnis zu einerseits konzeptuellen, andererseits geselligkeitsfördernden Formaten.

Im Jahr 2019 leitete die Klassik Stiftung Weimar einen strategischen Perspektivenwechsel ein. Seitdem gilt es verstärkt, die Wissenstopografie als Ressource für Existenzfragen im 21. Jahrhundert zu aktivieren, ohne den Gefahren charakterlos verkürzender Aktualisierungen zu erliegen. Besonders die Potenziale der Weimarer Spätaufklärung und des frühen Bauhauses sind für notwendige Transformationsprozesse unserer Gegenwart aufzuschließen und zu nutzen. Als Kulturinstitution, die Orientierungswissen ermöglicht, rückt die Klassik Stiftung Weimar drei Ebenen in den Fokus: die historischen Orte in ihrer Materialität und Diversität, die Sammlungen und Bestände in ihrer Überlieferungsdichte sowie die komplexen Institutionsgeschichten und ihre paradoxen erinnerungskulturellen Implikationen. Neben dem Bewahren von Zeugnissen, Denkmalen und Daten treten das Weiterentwickeln von Infrastrukturen und ihr nachhaltiges Management in integrierten Betriebs- und Nutzungskonzepten in den Vordergrund. Als Ort der sammlungsbezogenen Forschung schärft die Stiftung in nationalen und internationalen Netzwerken ihr Profil. In Bildung und Vermittlung setzt sie auf Beteiligung des Publikums. Die Stiftung will Impulsgeberin und Brückenbauerin zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit sein, Übersetzerin geschichtlicher Tiefendimensionen ins gegenwärtige Leben.

Kurz: Auf unserer Agenda steht ein Weiterarbeiten am Mythos. Dabei gilt es zu ergründen, ob sich beim Versuch seiner intelligenten Dekonstruktion Möglichkeiten komplexerer Erzählungen und Praktiken herauskristallisieren, die wir in der gegenwärtigen Welt gut gebrauchen könnten. Im Kern handelt es sich um eine Neucodierung des kulturellen Potenzials – im Bewusstsein, dass damit dessen kritische Transformation verbunden ist.

Ein Pionierprojekt ist die Verflechtung von denkmalgerechter Instandsetzung und musealer Neukonzeption des 1885 gegründeten Goethe-Nationalmuseums. Einst der Prototyp für Dichtergedenkstätten als nationale Symbolorte ist es bis heute Herzstück des kulturellen Koordinatensystems der Klassik Stiftung Weimar. Es geht um nichts weniger, als das programmatische und kuratorische Konzept des Goethe-Nationalmuseums unter den Rahmenbedingungen und zugeschnitten auf die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts neu zu denken. In einer quasi-archäologischen Suchbewegung – »Wo ist Goethe?» – gilt es, den weit über nationale Grenzen hinaus vernetzten und wirksamen Autor, Künstler, Sammler, Wissenschaftler und Politiker freizulegen. Wir wollen sein Haus als einen europäischen Denkort verständlich machen und unser Publikum zu Aha-Erlebnissen verführen: zum Beispiel, dass sich dieses Haus unablässig physisch verändert hat, am stärksten durch Goethe selbst und durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs. Dabei werden museale Präsentationen und Bildungsangebote mit kulturwissenschaftlichen Perspektiven und frischen Ansätzen der Publikumspartizipation aktualisiert. So wird mit dem baulichen Denkmal zugleich dessen gesellschaftliche Wirkung im 21. Jahrhundert zukunftsfest gemacht.

Ein wichtiger Meilenstein war 2023 die Einbeziehung der Multimediakünstlerin Danica Dakić und ihrer filmischen Ruinen-Erzählung »La Casa« über Erinnern und Vergessen, Erben und Zerstören in Weimar und Rom. Damit haben wir begonnen, den auratischen Schauplatz aufzubrechen für eine andere, eine poröse und ambivalente Art von Erinnerungskultur. Denn das Dichterhaus am Frauenplan mitsamt seinen historischen Ausstattungsschichten, den naturwissenschaftlichen und künstlerischen Sammlungen, der Gelehrtenbibliothek und den hier hinterlassenen literarischen und wissenschaftlichen Handschriften, Tagebüchern und Briefen war nicht nur ein halbes Jahrhundert lang Lebensmittelpunkt, Arbeitsort, Denkwerkzeug und Knotenpunkt des europaweiten Netzwerks eines außergewöhnlichen »Kollektivwesens«, als das sich Goethe selbst beschrieb. Auch alle nachgeborenen Generationen haben diesen Ort als nationales Kultursymbol der Sonderklasse mit ihrem Bild von Goethe überformt und zunehmend fiktionalisiert. So entstand ein einzigartig widersprüchlicher Überlagerungskomplex.

Heute ist die Wahrnehmung Goethes als deutscher Nationaldichter selbst historisch geworden. Dennoch kommen Gäste aus aller Welt mit positiven Erwartungen an ein essenzielles Kulturerbe der Deutschen hierher. Statt einer weihevollen Nationalgedenkstätte werden sie künftig ein Goethe-Nationalmuseum erleben, das sich als überraschend lebendiger und vielfältig anschlussfähiger Ort wiedererfunden hat. Ein Denkraum, in dem auch junge Generationen unterschiedlichster Prägung ihre Perspektiven und Ansprüche wiederfinden, um Motivation und Inspiration für eigene Wege ins Offene zu gewinnen.

Das Goethehaus nach seiner Sanierung wird ein für das Abwägen und Genießen von Widersprüchen offener Gedächtnisort und zugleich ein Zukunftslabor sein. Die Klassik Stiftung Weimar wagt damit den ernsthaften Versuch, eine zukunftsweisende Erinnerungskultur zu etablieren, die sich nicht in Fiktionalisierung, Identifikation und Emotionalisierung erschöpft, sondern auf die differenzierende Wahrnehmung von Mehrdeutigkeiten und ein lustvolles Exerzitium der Urteilskraft zielt. Das geistesgegenwärtige Dichterhaus von heute soll ein kritisches Geschichtsbewusstsein evozieren, das reflektierend, nicht restaurativ vorgeht und eher von einer möglichen Zukunft als von imaginären Vergangenheiten träumt – kurz und paradox formuliert: Erinnerung nach vorn ermöglichen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.