»Die Dinge sind nicht immer so wie sie scheinen« gab der römische Fabeldichter Phaedrus schon 20 v. Chr. zum Besten. Stimmt. Denn nicht der 1. April, an dem wir uns gegenseitig zum Narren halten, gibt dem Monat besondere Bedeutung. Nein, es ist der 2. April, der Internationale Kinderbuchtag. Was für eine Vorstellung: Auf der ganzen Welt ist Tag der lesehungrigen Kinder – in diesem Jahr sogar an einem Sonntag. Der 2. April ist der Geburtstag des berühmten dänischen Dichters Hans Christian Andersen. Er wäre 218 Jahre alt geworden in diesem Jahr. Viele seiner Märchen – wie z. B. »Des Kaisers neue Kleider« – wurden auf der ganzen Welt bekannt. Weil Kinder und viele Erwachsene die Geschichten des Fabulierkünstlers lieben, wurde sein Geburtstag 1967 für den Kinderbuchtag ausgewählt, an dem der Fantasie rund ums Kinderbuch keine Grenzen gesetzt sind. So stellten es sich vermutlich die Initiatoren des International Board on Books for Young People (IBBY) vor.

Und an diesem Tag verstehe ich mich gern selbst als Kind, suche mir ein Märchen oder eine Kindergeschichte aus, die ich besonders mag, und lese sie oft nicht nur einmal. Im letzten Jahr war es die Geschichte vom Adler in den Lüften. Mein siebenjähriger Enkel Moritz hatte sie für mich 2012 geschrieben und mir mit Filzstift-Illustrationen zum Geburtstag geschenkt. Der Originaltitel, den ich nicht verschweigen möchte, lautete: »Der artler in Der lüfte«. Die Geschichte handelt von einem Adler, der in der Luft kreisend eine kleine Maus als Beute erspäht hat. Ängstlich erblickt auch die Maus den Adler und fühlt sich unfähig wegzulaufen. Der Raubvogel kommt näher und näher, landet auf einem Stein neben der Maus und fragt sie ganz unvermittelt: »Wollen wir Freunde sein?« Es war sechs Wochen nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine, als ich im letzten Jahr diese kleine Geschichte wieder las.

Und damit zurück zum Monat April. Schon 21 Tage später, wieder an einem Sonntag, feiern Buchhandlungen, Verlage, Bibliotheken, Schulen und Lesebegeisterte am UNESCO-Welttag des Buches ein zweites großes Lesefest. Die UNESCO hat sich dabei von einem wunderbaren katalanischen Brauch inspirieren lassen: Am 23. April, dem Namenstag des Volksheiligen St. Georg, verschenken die Katalanen Rosen und Bücher. Außerdem sei das der Todestag von William Shakespeare und Miguel de Cervantes. Doppelter Grund, Blumen und Bücher zu verschenken, auch an sich selbst. Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach nehmen etwa 40 Prozent der Deutschen mindestens einmal in der Woche ein Buch in die Hand. Optimisten, zu denen ich zähle, fragen im Stillen: Also ist Deutschland noch immer ein Leseland? Pessimisten ziehen die elf Millionen Schülerinnen und Schüler ab, die zwangsläufig einmal pro Woche ein Schulbuch in die Hand nehmen müssen. Plötzlich entsteht ein anderes Bild der Lesekultur. Warum ist Lesen überhaupt wichtig? Darauf gibt es viele kluge Antworten, die vermutlich alle richtig sind.

Auf einer Zugfahrt in den 1990er Jahren von Leipzig nach Prag erzählte mir der Schriftsteller Erich Loest – in den 1950er Jahren unschuldig verurteilt – von seinen siebeneinhalb Jahren Haft im Zuchthaus Bautzen. Selten war er so offen wie in diesen Stunden. Für mich unvorstellbar, eine solche Zeit zu überstehen. Wie hatte er sich beispielsweise distanzieren können von menschenverachtender Behandlung? »In einer solchen Situation versucht man vieles«, so Erich Loest. »Eine Methode half. In Einzelhaft erzählte ich mir – und später dann meinen Mitgefangenen in der Zelle – alle Romane, die ich gelesen hatte, alle Erzählungen und Gedichte, die mir noch erinnerlich waren. Und das viele Male. So brachte mich das Angelesene durch diese Zeit.«

Und der Höhepunkt des Monats? Mein Höhepunkt? An vier Tagen am Monatsende können Lesehungrige und Bücherneugierige rund 2.500 Mit-wirkende in mehr als 2.400 Veranstaltungen an 300 verschiedenen Orten die Leipziger Buchmesse erleben. »Leipzig liest« als das größte Lesefest Europas wird uns alle wieder, Leserinnen und Leser, Verlage, Autorinnen und Autoren einfangen und zusammenbringen. Wohl aus gutem Grund. Denn die Vorstellung ist nicht totzukriegen, dass Lesen klüger mache und sogar das Leben verlängere. Der Monat April ist also ein besonderer, obwohl man auch in den anderen elf durchaus zum Buch greifen kann.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2023.