Darf ich an dieser Stelle von meinem jüngsten Misserfolg berichten? So etwas tut man normalerweise nicht, aber vielleicht ist es lehrreich. Also, im Mai habe ich ein Buch herausgegeben, das nach den theologischen Konsequenzen fragt, die aus der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt bzw. von grenzverletzendem Verhalten in meiner evangelischen Kirche zu ziehen wären. Zu meinen Koautorinnen und Koautoren gehören Bischöfinnen, Universitätstheologen, Vertreter der Diakonie, des evangelikalen Spektrums, der pastoralen Praxis sowie eine Kollegin, die aus der Sicht einer Betroffenen schreibt. Es ging uns nicht um die Aufdeckung von Missbrauchsfällen, sondern um ein gemeinsames Nachdenken darüber, was dies alles für uns selbst, unser Selbstverständnis, unsere Arbeitskultur, unsere Theologie und Spiritualität bedeutet.

Dabei sind wir auf Gedanken gekommen, von denen ich denken würde, dass sie eine größere Aufmerksamkeit verdient hätten. Beispielsweise, dass unsere wichtigste Vergleichsgröße nicht die katholische Kirche ist, worin aber ein eigenes Problem besteht. Da sich die evangelische Kirche seit der Reformation und dann noch gesteigert seit den 1970er Jahren als eine herrschafts- und machtkritische Konfession versteht, fällt es ihr besonders schwer, eigene Macht und damit auch eigenen Machtmissbrauch wahrzunehmen. Das betrifft besonders den »Missbrauch von links«, dessen Aufarbeitung – neben der Heimerziehung – derzeit unsere Hauptaufgabe ist. Diese Beschäftigung mit der dunklen Seite der sexuellen Emanzipation verbindet uns oder sollte uns verbinden mit Internaten und staatlichen Schulen, Reformpädagogik und Psychotherapie, Sport- und Musikvereinen, der Schwulenbewegung und Bürgerrechtsorganisationen.

Wichtig erscheint mir auch das Nachdenken darüber, welche Abgründe eine konventionelle Redeweise von Entschuldigung und Vergebung besitzt, wenn man mit ihr betroffene Menschen konfrontiert. Oder wie problematisch Semantiken von Nähe und Gemeinschaft sind, wenn nicht auch von guten Grenzen, angemessenen Abständen und dem Recht, für sich zu sein, die Rede ist. Besonders lehrreich war für mich der Beitrag unseres jüngsten Koautoren, der nach dem Sinn des Begriffs »Aufarbeitung« fragt. Dieser ist ja inzwischen zu einer der wichtigsten ethischen Kategorien überhaupt avanciert. Aber wer wüsste zu sagen, was damit eigentlich gemeint ist? Und schließlich hat mich sehr berührt, wie eine Kollegin aus ihrer Sicht als Betroffener ihre gebrochene und veränderte Christlichkeit reflektiert.

Die Arbeit an diesem Buch hat uns alle sehr gefordert. Kurz vor Drucklegung, als alle Beiträge vorlagen, haben wir noch kurz gezögert. Wie wird es ankommen? Wird es auf Unverständnis oder Ablehnung stoßen? Dann aber brachte der Herder-Verlag unser Buch »Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche« heraus. Und nun kommt die Sache mit dem Misserfolg. Denn anschließend passierte nichts – außer einer freundlichen Erwähnung in einer deutschen Qualitätszeitung und einer positiven Besprechung aus der Schweiz. Aber sonst: nichts, nada, niente. Am Verlag wird es nicht gelegen haben, er hat ordentlich Werbung gemacht. Oder war das Buch nicht gut genug? Oder hat das zeitgleich erschienene Gutachten über das katholische Bistum Münster alle Aufmerksamkeit absorbiert?

Ich weiß, dass es kein Recht auf Rezeption gibt. Aber irritiert bin ich doch über unser Scheitern und auch besorgt, weil es scheint, als könne über dieses Thema nur im Modus der Skandalisierung öffentlich gesprochen werden. Um nicht falsch verstanden zu werden: Skandalisierung ist legitim, ja unerlässlich. Doch wenn sie die einzige Form des Darüber-Redens bleibt, wird es schwierig. Denn Skandalisierungen wirken selten nachhaltig und führen dazu, dass man nur auf die Probleme bei anderen schaut. Dabei ist es im Kampf gegen sexualisierte Grenzverletzung oder Gewalt so wichtig, dass alle immer auch auf sich selbst schauen, die eigenen Strukturen und Kulturen, die eigenen Versuchungen und Abgründe. Aber das ist sehr schwer.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.