Bergamo und New York 2020, Butscha und Mariupol 2022: Hier sind es die Verstorbenen der Pandemie, teils in Plastik-Leichensäcken per Gabelstapler in Lastwagen gehievt, verladen wie Massentransportgut. Dort sind es die ukrainischen Todesopfer des russischen Angriffskriegs, deren sterbliche Überreste teils wochenlang offen sichtbar auf Straßen und Plätzen liegen – »Leichenteppiche«, wie Augenzeugen es bestürzt beschreiben. So gänzlich verschieden die Kontexte, so erschütternd die Momentaufnahmen jener Leichname: ihres Anspruchs auf Würde beraubt, ungeborgen, namenlos, anonym.  

Wie human im Gegensatz dazu die Friedhofskultur jenseits solcher Krisen: dass jedem Menschen, der sich zu Lebzeiten nicht bewusst anders entscheidet, nach seinem Tod ein personales Angedenken am sinnbildlichen öffentlichen Ort gewidmet wird, dass sein Name am Grab eine Inschrift erhält, dass man dort auch sein Geburts- und Todesjahr vermerkt, dass die Bestattung in solidarischer Gemeinschaft der Hinterbliebenen rituell vollzogen wird. Denn nahezu alle Menschen – ob religiös oder nicht – eint angesichts des Todes Nahestehender eine Art Urgefühl: Ich fühle mich diesem verstorbenen Menschen über den Tod hinaus verbunden und deshalb will ich sein Gesicht, seinen Namen und seinen Lebenslauf nie vergessen. 

Diese Zeitungsausgabe erscheint im Monat November, dem »Totenmonat« mit seinen christlichen Feier- und Gedenktagen Allerheiligen, Allerseelen und Ewigkeitssonntag. Der religiöse Glaube leugnet die Radikalität des Todes nicht; jeder Mensch muss für sich seinen Tod erleiden und die Zurückbleibenden spüren schmerzlich den Verlust – aber diese menschliche Ohnmacht wird in den Riten und Gebeten der christlichen Gedenktage und Begräbnisfeiern sowie in den Bildern und Symbolen der Gräber aufgebrochen: Christinnen und Christen glauben, dass der verstorbene Mensch mit seiner einmaligen Identität jetzt in Gott weiterlebt und den Hinterbliebenen zugleich in anderer, neuer Weise real nahe ist. Gerade der wiederkehrende Besuch am Grab hält dieses tröstliche Bewusstsein wach. 

In fünf Bundesländern freut man sich am 1. November über einen arbeitsfreien Tag, aber die tiefere Bedeutung des Kirchenfestes Allerheiligen wird überwiegend nicht mehr gekannt. Nach der heiligen Mutter Teresa bedeutet »heilig« sein, »Gott zu erlauben, sein Leben in uns zu leben«. Das Fest Allerheiligen lebt von der Überzeugung, dass durch Jesus Christus eine Verbindung zwischen lebenden und verstorbenen Heiligen besteht. Und weil gerade heiligmäßige Menschen so bescheiden im Hintergrund wirken, dass sie für die Aufnahme in den Heiligenkalender oftmals gar nicht entdeckt werden, ist ihnen das Allerheiligenfest in ganz besonderer Weise gewidmet – ein deutlicher Kontrapunkt zum säkularen Zeitgeist, der »in den Fluten von Information das dankbare Gedenken verlernt, das uns mit denen verbindet, die uns vorangegangen sind«, so Jan-Heiner Tück. 

Viele unter 30-Jährige (61%) glauben an das Weiterleben nach dem Tod: Das ergab die repräsentative Oster-Umfrage 2021 von INSA-Consulere im Auftrag der Tageszeitung »Bild«. Die Zahl derer, die kirchlich bestattet zu werden wünschen, obgleich sie keiner Religionsgemeinschaft angehören, liegt deutschlandweit um knapp zehn Prozent höher als die Zahl der Kirchenmitglieder. Dies deutet auf den hohen Transzendenzbedarf der Bevölkerung. Als Ort, an dem die Menschen ihre Tränen zeigen dürfen, aber auch als Ort, an dem sie den inneren Schmerz überwinden, ist der Friedhof die etwas andere soziale Drehscheibe: Die dort Ein- und Ausgehenden verbindet das unsichtbare Band der Pietät in einzigartiger Mischung von Achtsamkeit, Wertschätzung und Glaubenshoffnung. Ein hassfreier Ort des Friedens mitten in einer Zeit von Hatespeech und Shitstorms. Weit über den Kreis der Katholikinnen und Katholiken hinaus besuchen am Allerseelen-Tag am 2. November Hunderttausende die Gräber ihrer Verwandten, Freunde und Bekannten, entzünden dort »Seelenlichter« und legen Blumengestecke nieder: sichtbare Zeichen, dass Gott immer bei den Verstorbenen ist. Bei einer abendlichen Prozession durch die Friedhofsreihen segnet der Priester die Gräber und bezieht hierbei ganz bewusst die sehr alten und anonymen Grabstellen mit ein. 

Übrigens sind die bundesweit 11.500 kirchlichen Friedhöfe auch ökologische Leuchttürme. Die Gräber sind eingebettetin großzügige, biodiverse Gärten mit reicher Wildfauna und großenteils sehr altem Baumbestand. Einfriedende Buschgehölze und blühende Bodendeckervegetation bilden im Zusammenspiel mit wärmespeichernden Natursteinmauern und Grabsteinen ideale Biotope. Die Photosynthese-Leistung der alten Baumriesen allein auf den katholischen Friedhöfen in Deutschland beträgt jährlich deutlich mehr als eine Million Tonnen Sauerstoff – das ist der Atemsauerstoffbedarf der Bundeshauptstadt Berlin mit ihren 3,6 Millionen Menschen. Dass der CO2-Abbau der Friedhofsvegetation erheblich dem Klimaschutz dient, liegt auf der Hand. 

Der Friedhof war über Jahrtausende ausschließlich ein religiöser Ort und zugleich hat seine Pflege und Bewahrung einzigartige Kulturtechniken wie das Bestattungswesen, die Trauerfloristik, das Kunsthandwerk der Grabsteinmetze etc. hervorgebracht. Auf dem Friedhof befruchten sich religiöser Kultus und säkulare Kultur intensiv; beide sind verbunden in der Pietät. Bei allem UNESCO-Labeling, bei aller Kulturgutschutzpolitik ist es wichtig, dass die Auferstehungshoffnung der lebendige Kern der Friedhofskultur bleiben darf – natürlich nicht als etwas Aufgezwungenes, sondern als leise, aber stetige Einladung des Glaubens. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.