Anhand der Begriffe »Versöhnung« und »Vergebung« lassen sich die Fehlentwicklungen deutscher Erinnerungskultur ausmachen. Seit Jahren beschäftige ich mich mit ihren progressiven Ursprüngen, ihrer Versteinerung, der Möglichkeit, ihre kritischen Impulse gegen das Versagen der postnazistischen Gesellschaft in der Gegenwart in Stellung zu bringen, und ihren Leerstellen. Leerstellen wie die, dass sowohl queeren als auch widerständigen Jüdinnen und Juden selten gedacht wird und dass ihre Kämpfe nur selten Bedeutung für die Gegenwart zu haben scheinen. Ein kritischer Blick auf den Status quo deutscher Erinnerungskultur wirft noch mehr Fragen auf: Wie geht sie mit dem Widerspruch um, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland mehrheitlich einen post-sowjetischen Hintergrund hat? Wie geht sie damit um, dass heute eine große Zahl der Jüdinnen und Juden Altersarmut erlebt, während viel Geld für die Renovierung von ehemaligen Synagogen an Orten aufgebracht wird, an denen es heute kein jüdisches Leben gibt? Wie geht sie damit um, dass Gedenktage wie der 27. Januar oder der 9. November an Verbrechen gegen die Menschheit erinnern sollen und der Antisemitismus nur noch selten genannt oder sogar ausgeblendet wird?
Die deutsche Erinnerungskultur tut sich schwer damit, Jüdinnen und Juden zu gedenken, die gegen die deutsche Zustimmungsdiktatur zur Waffe griffen. Die intimsten Gedanken eines jugendlich ermordeten Menschen wurden zum Kassenschlager, und Millionen von Menschen verschlangen die literarisch herausragenden persönlichen Tagebucheinträge. Und gleichermaßen sind Namen wie der des Gustloff-Attentäters David Frankfurter (1936), der bulgarisch-kommunistischen Widerstandskämpferin Violeta Yakova, der Widerstandskämpferin im Warschauer Ghetto, Mira Furcher, oder auch Vladimir Jankélévitch den meisten Menschen in Deutschland unbekannt.
Ich muss gestehen: Den Namen des Philosophen Jankélévitch kannte ich lange Zeit auch nicht. Er wäre im August dieses Jahres 120 Jahre alt geworden – das Alter, in dem Moses starb. Es liegt sehr nahe, dass auch seine heutige Unpopularität eine Konsequenz des Bedürfnisses danach ist, dass im »wiedergutgewordenen« (Eike Geisel) Deutschland Jüdinnen und Juden vergebend und verzeihend auftreten. Damit sollen sie das deutsche Selbstbild bestätigen, dass die Aufarbeitung der NS-Geschichte erfolgreich und abgeschlossen ist. Entsprechend müssen unversöhnliche Jüdinnen und Juden, die die »größte Lebenslüge der Bundesrepublik«, dass »eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit« (Samuel Salzborn) stattgefunden habe, nicht akzeptieren wollen, sich in der Rolle der Außenseiterinnen und Außenseiter zurechtfinden. Sofern ihnen überhaupt eine solche vergönnt ist.
Jankélévitch fügte sich nicht. Anlässlich seines 100. Geburtstages war zu lesen, dass er »den Weg der dauernden und, wie sich zeigen sollte, endgültigen Unversöhntheit« (NZZ 2003) ging. Trotz meiner intensiven Beschäftigung mit Erinnerungskultur, Antisemitismus, Widerstandskämpferinnen und -kämpfern und der Shoa brauchte ich Jahre, ehe ich dem, wie ihn die Kulturjournalistin Susanne Mack (2007) nannte, »unversöhnlichen Moralisten« begegnete. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen – auch wenn die Kritik der Erinnerungskultur ein notwendiger Bestandteil ihrer selbst ist, um diese vor einer Verkrustung zu bewahren – sind doch diejenigen jüdischen Stimmen besonders populär, die nicht im Widerspruch zu der den Jüdinnen und Juden zugedachten Rolle stehen. Zum anderen hat sich der einstige Verehrer deutscher Kultur gegen die Übersetzung seiner Texte ins Deutsche verwehrt. Bis zu seinem Tod lehnte er jeglichen Besuch des Landes ab, von dem er sagte, dass dessen Bevölkerung »ein Volk ›ohne Reue‹« sei.
Ohne Reue? Kann man das über ein Land sagen, das heute zu den engsten Verbündeten des jüdischen Staates zählt? Über ein Land, dessen Gehwege mit Stolpersteinen gepflastert sind? Über ein Land, in dessen Hauptstadt ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas steht? Gleichermaßen ist es ein Land, dessen Bundeskanzler Gerhard Schröder sich wünschte, dass »die Deutschen (zum Mahnmal) gerne hingehen«. Ein Land, das die blutige Spur der antisemitischen Gewalt, so Ronen Steinke 2020, nach 1945 über Jahrzehnte weitestgehend ignorierte. Ein Land, in dem der politische Wille fehlt, rechtsterroristische Anschläge gegen Jüdinnen und Juden gänzlich aufzuklären.
Es wäre müßig zu spekulieren, wie Jankélévitch wohl auf die Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur reagiert hätte. Wie wäre der Moralphilosoph damit umgegangen, dass Deutschland heute ein positives Nationalgefühl durch die vermeintlich erfolgreiche »Aufarbeitung« seiner nationalsozialistischen Geschichte proklamiert? Zweifelsfrei war sein Blick auf Deutschland, insbesondere als er 1971 sein Essay »Pardonner?«, zu Deutsch »Hat man uns um Verzeihung gebeten?«, veröffentlichte, durch jene Phase der deutschen Geschichtspolitik geprägt, in der Überlebende um Eingedenken kämpften, während sich die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft den Schlussstrich wünschte. Als 1951 Bundesbürgerinnen und -bürger befragt wurden, gaben 40 Prozent von ihnen an, dass die Zeit unter der nationalsozialistischen Zustimmungsdiktatur besser gewesen sei als in der Bundesrepublik. Während in jener Zeit in Frankreich über die Verjährung von Kriegsverbrechen debattiert wurde, schrieb im gleichen Jahr der Sozialphilosoph Theodor W. Adorno: Dass diese deutsche Gesellschaft das »Vergangene« eben nicht ernsthaft verarbeitet, sondern »man will einen Schlußstrich darunter ziehen und womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen«.
Von NS-Täterinnen und -Tätern wurde nicht mehr erwartet, sich von der eigenen Vergangenheit zu distanzieren oder diese zu reflektieren. Beispielhaft dafür sind die Karrieren von Hans Globke und Theodor Oberländer. Globke hatte bereits vor 1933 als Jurist maßgeblich antijüdische Anpassungen des Namensrechtes verfolgt und einen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasst. In der jungen Bundesrepublik wurde er die rechte Hand des Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Oberländer befehligte im Juni 1941 das Bataillon Nachtigall – also in der Zeit, als der Verband national-ukrainischer Freiwilliger die jüdische Bevölkerung im heutigen Lwiw massakrierte – und war bis zu seinem Rücktritt von 1953 bis 1960 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Es ist jener Zeitabschnitt, in dem es zur »zweiten Schuld« der deutschen Gesellschaft kam: den »große(n) Frieden mit den Tätern«, so Ralph Giordano 2020, geschlossen zu haben. Auf diese Episode folgte, laut Aleida Assmann, eine zweite, seit den 1980er Jahren bis heute anhaltende Phase, die durch die Auffassung geprägt sei, dass im gemeinsamen Erinnern von Nachkommen der Opfer und Täterinnen und Täter eine Art der »Versöhnung« zu finden wäre. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach anlässlich einer Chanukka-Feier Ende 2022 im Schloss Bellevue davon, dass »wir (…) das wunderbare Geschenk der Versöhnung« erleben würden.
Vladimir Jankélévitch ist 1985 gestorben. Das bedeutet, dass er die zweite Phase deutscher Erinnerungskultur nicht mehr miterlebte. Ob sie ihn überhaupt interessiert hätte? Ich werde hier nicht spekulieren. Dass »die Deutschen« ganz »ohne Reue« seien, behauptete der Résistance-Kämpfer Jankélévitch auch nicht, doch er zweifelte ihre Glaubwürdigkeit an: »Die deutsche Reue heißt Stalingrad; sie heißt Durchbruch bei Avranches, sie heißt Niederlage!«, formulierte Jankélévitch 1971. Er sprach dabei vor allem von den Täterinnen und Tätern, zu denen für ihn jede und jeder gehörte, die oder der nicht aktiv Widerstand leistete, sondern durch Wegsehen und Opportunismus Shoa und Vernichtungskrieg ermöglichte. »Verzeihung«, die könnte es nie geben, denn es sei nicht an »den Überlebenden (…) zu verzeihen«, sondern »das Vorrecht der Opfer«, sagte Jankélévitch 1971.
Die Aktualität der Kritik an der postnazistischen Gesellschaft wird anhand Jankélévitchs Auffassung zum Umgang mit personellen und ideologischen Kontinuitäten deutlich: »Die Verzeihung? Sie ließ sich doch ahnen (…), und sie ist bald nach dem Krieg erfolgt mit der Wiederbewaffnung der Übeltäter, mit der Rehabilitation der Übeltäter und mit der schändlichen Nachsicht gegenüber der Ideologie der Übeltäter«. Das betrifft nicht nur den Antisemitismus: Genauso währten anti-slawischer Rassismus, Gadjé-Rassismus und der stetige Kampf um Anerkennung des Porajmos sowie Queerfeindlichkeit und Ableismus fort.
Das alles in einer Gesellschaft, in der zwar eine (geschichts-)wissenschaftliche Forschung stetig neue Erkenntnisse über die NS-Vergangenheit liefert und diese in politischer Bildungsarbeit vermittelt, damit aber einer »historisch desorientierten und weitgehend faktenresistenten deutschen Bevölkerung« begegnet, die sich nicht mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Antisemitismus und den Nationalsozialismus auseinandersetzen will, wie Samuel Salzborn 2020 formulierte. Im September 2022 zeigte die Bertelsmann-Stiftung in einer repräsentativen Umfrage auf, dass sowohl Quantität als auch Qualität der Angriffe auf die Erinnerungskultur zugenommen haben. Es stimmten außerdem 49 Prozent der befragten Personen der Aussage zu, dass man heute, »beinahe 80Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, (…) nicht mehr so viel über die Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus reden, sondern endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen« sollte.
Vladimir Jankélévitch war ein Bewunderer deutscher Kultur. Dann zog er aus der Erfahrung von Krieg und Vernichtung den Entschluss, diesem Land, das seine Täterinnen und Täter reintegrierte, den Rücken zu kehren. Der jüdische Résistance-Kämpfer hat Überlegungen hervorgebracht, die heute Stachel im Fleisch derjenigen sind, die sich nach einer geheilten deutschnationalen Identität sehen. Es gilt, Jankélévitchs Überlegungen kritisch und differenziert einzuordnen. Dann besitzen sie eine unermüdliche Sprengkraft für die Gegenwart, denn sie lassen nicht ruhen. Sie reden nicht dem Bedürfnis nach Heilung deutschnationaler Identität das Wort, sondern rufen zur Unversöhnlichkeit auf – aus Einsicht gegenüber den Tatsachen des postnazistischen Deutschlands. Unversöhnlichkeit gegenüber den Verhältnissen, die als Deutsche die Barbarei hervorgebracht haben.
Es ist ein Denken, das ermutigt, sich unaufhörlich mit den Kontinuitäten zu beschäftigen. Es ermutigt dazu, keine Kompromisse mit den rechten Versuchen einzugehen, den vorpolitischen Raum zu erobern. Es ermutigt diejenigen zu konfrontieren, die, wie es Salzborn 2020 formulierte, eine »Gewalt der Erinnerungsverweigerung, eine Gewalt des Vergessens« betreiben, die sich darin begründet, dass sich »nichts Positives, nichts Konstruktives aus Auschwitz ergibt, sondern dass sie das Erbe der Barbarei nur verarbeiten könnten, wenn sie zunächst einmal bereit wären, es zu ertragen«. Sehr viele Autorinnen und Autoren haben in den vergangenen 30 Jahren zu Erinnerungskultur und Antisemitismus veröffentlicht. Der Name Vladimir Jankélévitch darf nicht vergessen werden: Denn sein Denken bietet Impulse dafür, Erinnerungskultur immer wieder aufs Neue herauszufordern. Nicht, um der verbreiteten Schlussstrichmentalität zuzusprechen, sondern um die Erinnerungskultur immer wieder zu erneuern, damit ihre progressiven Impulse für die Gegenwart erhalten bleiben. Seit 2004 kann Jankélévitch im Deutschen gelesen werden. Die Chance dazu sollte genutzt werden.