Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden von gelebter Erinnerung zu archivierter Geschichte. Sowohl das Gedenken an die Opfer des NS-Unrechts als auch der gegenwärtige Kampf gegen Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus steht damit vor der Herausforderung, das Erinnern für neue Generationen lebendig zu halten.

Eine repräsentative Studie des Rheingold Instituts im Auftrag der Arolsen Archives hat ergeben, dass die Generation der 16- bis 25-Jährigen (Gen Z) sich deutlich mehr für die NS-Zeit als die Generation ihrer Eltern (75 Prozent vs. 66 Prozent) interessiert und die Auseinandersetzung mit akuten gesellschaftlichen Problemen wie Rassismus und Diskriminierung verbindet. »Die jungen Menschen wollen selbst die Moral der Geschichte erkennen«, sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des Instituts. »Sie wollen am Diskurs teilhaben und Meinungen hinterfragen dürfen.« Befreit von dem Gefühl persönlicher Schuld würden sich laut der Studie die jungen Leute eine Brücke zum eigenen Alltag bauen und versuchen, ihre eigene Lebenswelt in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit besser zu verstehen. Eine zeitgemäße Auseinandersetzung benötige außerdem den Einblick in konkrete Lebenswirklichkeiten, eine Verschmelzung digitaler und analoger Angebote und leicht verständliche Informationen. Auf ebensolche Anforderungen an eine zeitgemäße und in Teilen digitale Erinnerungskultur möchte die Stiftung Digitale Spielekultur in Kooperation mit dem Deutschen Kulturrat in Form des Projekts »Let’s Remember! Erinnerungskultur mit Games vor Ort« eingehen.

Das auf eine Projektlaufzeit von zwei Jahren festgelegte Vorhaben erprobt in Kooperation mit Museen, Gedenkstätten und kulturellen Begegnungsorten den Einsatz von Games im Kontext einer digitalen Erinnerungskultur in Form von Fortbildungen, Workshops und Publikumsveranstaltungen vor Ort. Es wird im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) sowie vom Bundesministerium für Finanzen gefördert und baut inhaltlich auf den Erfahrungen der Initiative »Erinnern mit Games« der Stiftung Digitale Spielekultur auf.

Wie in vielen anderen populären Medien und Künsten ist der Zweite Weltkrieg in digitalen Spielen ein regelmäßig anzutreffendes Szenario, dessen mediatisierte Darstellung aber oft nicht viel mit der historischen Wirklichkeit zu tun hat und das auch gar nicht will. Und das ist im Rahmen der Unterhaltung auch gut so, denn sonst könnten weder Tarantinos »Inglourious Basterds« die NS-Führung in einem Pariser Kino massakrieren, noch könnte Shooter-Held B. J. Blazkowicz in »Wolfenstein II: The New Colossus« Nazis auf der Venus jagen. Trotzdem ist sowohl aus historischer als auch bildungspolitischer Perspektive die Frage gerechtfertigt, inwieweit die Macht der popkulturellen Bilder den Zweiten Weltkrieg zu einer ästhetisierten Chiffre macht, die ohne historisches Grund- und Fachwissen nicht mehr zu entziffern ist.

Hier knüpft die Idee einer digitalen Erinnerungskultur mithilfe digitaler Spiele an, die im Rahmen von »Let’s Remember!« nun einem Praxistest in der Erinnerungsarbeit unterzogen wird. Einerseits will das Vorhaben veranschaulichen, dass sich abseits des Mainstreams bereits eine Reihe von Games auf sensible Weise mit NS-Geschichte auseinandersetzt – und dabei ganz gezielt die Stärken des Mediums einsetzt, wie z. B. die Möglichkeit spielend unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und Geschichte nicht linear zu erzählen. Andererseits will das Projekt sowohl pädagogische Fachkräfte als auch Spielende für die Leerstellen in populären Action-, Abenteuer- oder Strategiespielen sensibilisieren. Denn auch eine rechtzeitig erkannte Leerstelle kann zum Aufhänger für eine konstruktive Diskussion über das »Warum« werden. Im Idealfall können Games durch ihre immersive Qualitäten und ihre Allgegenwärtigkeit im Alltag junger Menschen so den eingeforderten Brückenschlag zwischen der eigenen Lebensrealität und den gelebten Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg ein Stück weit vorantreiben.

»Let’s Remember!« war dieses Jahr bereits in vier Museen und Gedenkstätten mit unterschiedlichen Formaten zu Gast. Den Auftakt bildete eine Fortbildung für die Mitarbeitenden des Max Mannheimer Studienzentrums in Dachau am 17. Oktober. Es folgte eine kommentierte Spielung des mit dem Deutschen Computerspielpreis ausgezeichneten »Through the Darkest of Times« im Museum für Kommunikation Nürnberg. Am 9. November, dem Gedenktag für die Opfer der NS-Novemberpogrome, ließen Schülerinnen und Schüler einer 11. Klasse eigene Spielideen im Rahmen eines »Mini Game Jams« im Dachauer Max Mannheimer Studienzentrum in die Entwicklung eines Spiels einfließen. Eine Fortbildung für Mitarbeitende des Anne Frank Zentrums in Berlin folgte am 13. November, die unter anderem zur Vorbereitung auf mehrere Game-Design-Workshops am 10. Dezember diente. Vom 1. bis 3. Dezember war das Projekt schließlich im Ravensbrücker Kolloquium zu Gast und lud zu einem »Game Exhibition Jam« in der Gedenkstätte Ravensbrück ein, um über die Verschränkung zwischen historischem Ort und digital-spielerischen Angeboten zu reflektieren. Sämtliche ortsgebundene Formate werden dokumentiert, die Inhalte der Fortbildungen werden zudem in Form kurzer Onlinetutorials im kommenden Jahr der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die bereits bestehende Onlinedatenbank »Games und Erinnerungskultur« der Stiftung Digitale Spielekultur wird darüber hinaus grundlegend überarbeitet und erweitert, um die vielfältigen aktuellen Entwicklungen in diesem Bereich widerzuspiegeln.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.