Der neue Vorsitzende des Bibliotheksverbands, Volker Heller, spricht mit Ludwig Greven über die Bedeutung der Bibliotheken für die kulturelle Teilhabe, ihre Rolle als öffentlicher Ort und über den Streit mit den Verlagen um die Ausleihe von E-Books.

Ludwig Greven: Wie wird man vom Musiker und Kulturmanager zum Vorsitzenden des Deutschen Bibliotheksverbands?

Volker Heller: Die Leitung einer Band, was ich früher gemacht habe, ist Kulturmanagement, und Bibliotheken sind Kultureinrichtungen. Das ist verwandt. Wenn wir über Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik reden, sind wir schnell bei Bibliotheken, denn sie sind ein demokratischer Kulturort wie kaum eine anderer. Hier findet gesellschaftliche Begegnung auf vielen Ebenen statt. Sie stehen für Vielfalt und Inklusion und sind essenziell für das kulturelle Leben in vielen Kommunen. Die Wahrnehmung unserer Erfolge und Potenziale ist allerdings ausbaubar. Daran möchte ich arbeiten.

Lange Zeit wurden öffentliche Büchereien aus Kostengründen reihenweise geschlossen. Vielen gelten sie als überflüssig und Auslaufmodell. Welche Bedeutung haben sie noch im Digitalzeitalter, wo Informationen im Netz im Prinzip für jeden verfügbar sind, oft sogar kostenlos?

Die Bedeutung sieht man schon an den Zahlen der Besucherinnen und Besucher. Sie steigen seit Jahren deutlich. Zwölf Millionen Menschen haben einen Bibliotheksausweis. Bundesweit haben wir einschließlich der wissenschaftlichen Bibliotheken mehr als 220 Millionen Besuche pro Jahr. Das ist mehr als bei der Bundesliga und einzigartig. Und Bibliotheken sind ja weit mehr als Bücherregale. Die Nutzer gewinnen hier souveräne Lese-, Schreib- und Informationskompetenz, im Analogen wie im Digitalen. Im Digitalbereich haben sich die Bibliotheken enorm weiterentwickelt. Wir haben einen eigenen Film-Streaming-Kanal entwickelt. Wir bieten Workshops zu Fake­-News-Recherche an. Und wir verleihen ­E-Book-Reader und Notebooks. Bibliotheken haben nach wie vor einen hohen Wert in der Leseförderung und Wissensaneignung, auch bei der digitalen Teilhabe. 25 Prozent der Menschen in Deutschland sind nicht in der Lage, eigenständig digitale Transaktionen durchzuführen. Um die müssen wir uns kümmern, sonst hängen wir sie ab. Bibliotheken sind der perfekte Ort dafür.

Weshalb?

Sie sind ein öffentlicher Raum. Jeder kann sie kostenfrei betreten und benutzen, sehr niederschwellig. Wir bieten auch Arbeitsplätze und Begegnungsflächen, die sind ein Riesenrenner, in öffentlichen genauso wie in wissenschaftlichen Bibliotheken. Wenn ich in meiner Bibliothek eine Regalreihe rausnehme und stattdessen Arbeitsplätze reinstelle, sind die binnen einer Woche alle belegt. Die Menschen lieben es, einen Ort zu haben, wo sie verweilen können zum Lesen, Arbeiten oder um andere Menschen zu treffen. Wir bieten unsere Räume auch verstärkt Gruppen und Initiativen an für Informationsveranstaltungen und um in Diskurs miteinander zu gehen. Wissen befindet sich nicht nur zwischen zwei Buchdeckeln, sondern auch in den Köpfen unseres Publikums. Das zu aktivieren, ist eine wichtige Funktion für Bibliotheken. Unsere Gesellschaft braucht milieuübergreifende Begegnung im öffentlichen Raum, wo unterschiedliche Ideen aufeinandertreffen, sich Meinungen bilden und Lösungen erarbeitet werden. Das alles stützt unser demokratisches Gemeinwesen.

Ursprünglich sollten öffentliche Büchereien vor allem ärmeren, bildungsfernen Schichten den Zugang zu Literatur und Wissen ermöglichen. Gilt das bis heute?

Auch. Unsere Besucherinnen und Besucher sind ein ziemlicher Spiegel unserer Gesellschaft, vielleicht ein wenig gebildeter als im Durchschnitt. Letzteres ist nicht überraschend, da das Nutzen von Bibliotheken eine gewisse Bildungsaffinität voraussetzt. Aber ich kenne keine andere Kultureinrichtung, die ein so breites Publikum erreicht. Für die kulturelle Teilhabe spielt dabei immer noch eine große Rolle, dass Menschen, die es sich sonst nicht leisten können, Informationen und Medien kostenlos nutzen können. Das gilt auch für unser Raumangebot. Wenn ich sonntags in Berlin in die Amerika-Gedenkbibliothek gehe, sind die Tische voll besetzt mit Jugendlichen, die dort gemeinsam lernen. Wenn man mitbekommt, aus welchen Wohngegenden die kommen, ahnt man, dass die Bedingungen zuhause nicht so sind, dass sie sich in Ruhe auf die nächste Klassen- oder Hausarbeit vorbereiten können.

Es wird immer wieder geklagt, dass weniger Bücher gelesen werden. Stellen sie das auch fest?

Wir haben sehr stabile Ausleihzahlen. Im Buchmarkt insgesamt gibt es Untersuchungen, dass weniger Menschen Bücher kaufen, aber dafür lesen sie mehr. In bestimmten Bereichen geht der Trend zu den E-­Medien. Aber insgesamt sind ­E-Books noch ein Randmarkt mit etwa sechs Prozent. Ähnlich ist das bei uns. Print läuft auch in der Ausleihe immer noch sehr stark. Es gab vor 10, 15 Jahren eine häufig anzutreffende Fehleinschätzung in der Politik, man brauche Bibliotheken wegen der digitalen Entwicklung nicht mehr. Das hat sich überhaupt nicht bestätigt.

Dennoch fordert der deutsche Bibliotheksverband Leseförderung. Wo ist das notwendig?

Leseförderung ist eine Grundaufgabe der Bibliotheken und wichtig für die kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe. Wer nicht lesen und schreiben kann, kann auch mit seiner Krankenkasse schwer kommunizieren. Die Fördernotwendigkeit ergibt sich zum einen daraus, dass wir eine starke Einwanderungsgesellschaft sind. Da kommen Menschen, die sich mehr oder weniger gut die deutsche Sprache aneignen. Das setzt sich oft über Generationen fort. Da muss man gezielt unterstützen. Zum anderen haben wir in Deutschland einen Anteil von mindestens 15 Prozent funktionalen Analphabeten. Darüber wird wenig geredet. Diese Menschen haben es sehr schwer, Zugang zu Wissen und Bildung zu finden. Die Schulen können das oft nicht auffangen. Auch da sind Bibliotheken eine wichtige Anlaufstelle, um Hilfen anzubieten. Zugleich gehört zu einer zeitgemäßen Leseförderung der Erwerb digitaler Kompetenzen zum souveränen Umgang mit den neuen Kommunikationstechnologien.

Es gibt Streit mit den Verlagen über die E-Books, vor allem über die Frage, ab welchem Zeitpunkt nach dem Erscheinen Bibliotheken sie verleihen dürfen. Zeichnet sich da eine Lösung ab?

Das ist ein schwieriger Konflikt zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Verlage und Autoren und unserem Auftrag, Informationen, Wissen und Literatur schnell frei zugänglich zu machen. Seit Jahrzehnten hatten wir da eine friedliche Koexistenz auf Basis klarer Regeln gelebt. Niemand wird behaupten, dass Verlage pleite gegangen sind, weil Bibliotheken Bücher verleihen. Der Verleih von E-Books ist dem Verleih von physischen Büchern nachgebildet. So kann ein E-Book pro Lizenz und festgelegtem Zeitraum nur von jeweils einer registrierten Person ausgeliehen werden. Das läuft genauso wie beim gedruckten Buch. Vorteile der »Nicht-Abnutzung« und des bequemen Remote-Zugriffs von E-Books gegenüber gedruckten Büchern gleichen die Bibliotheken mit einem 1,5-fachen Preis sowie zeitlicher Begrenzung der Nutzungsdauer aus. Nach Ablauf der Lizenz muss das E-Book erneut erworben werden. All diese Maßnahmen dienen dem Schutz des Buchmarktes. Wenn E-Books durch die leichtere Zugänglichkeit häufiger ausgeliehen werden und das wirtschaftliche Nachteile für Verlage und Autoren bringt, muss man das ausgleichen. Für solche Gespräche sind wir offen. Allerdings auf der Basis gemeinsam geprüfter valider Zahlen. Die Verlage arbeiten mit unseriösen Zahlen. Sie kommen dadurch zu absurd hohen Schadenssummen, die ihnen angeblich durch die E-Book-Ausleihe entstehen, obwohl die ja nur einen geringen Anteil an unseren gesamten Ausleihen ausmachen. Das schreckt auch Autorenverbände auf. Ich werbe dafür, dass wir vernünftig darüber reden.

Was fordern die Autoren?

Zum anderthalbfachen Ladenpreis kommt die Bibliothekstantieme der Länder, die jeder Autor und Verlag beim Verleih eines Buches erhält, bislang allerdings nicht für E-Books. Das ist ein Skandal. Der dbv fordert seit Jahren, dass die Tantieme erhöht und auf den Verleih von E-Books ausgeweitet wird. Hier ist die Kultusministerkonferenz gefragt. Eine rote Linie ist für uns, dass Verlage uns die Rechte zum Ausleihen von E-Books erst nach sechs oder zwölf Monaten geben wollen. Einige machen das mit einzelnen Titeln, andere bei ihren gesamten Neuerscheinungen. Das macht uns völlig abhängig von der Willkür der Verlage und bedeutet eine Einschränkung des Grundrechts auf freien Informationszugang. Das können wir nicht akzeptieren. Die Vorstellung, jede Ausleihe sei ein entgangener Buchverkauf, ist ohnehin illusorisch. Im Gegenteil: Unsere Nutzerinnen und Nutzer kaufen überdurchschnittlich viele Bücher, auch E-Books. Die Verlage tun sich mit dem Streit deshalb nichts Gutes, es sei denn, sie sind der Ansicht, Bibliotheken bräuchten keine aktuellen Bücher. Dann allerdings hätten wir ein sehr grundlegendes Grundrechtsproblem. Bibliotheken sind Treuhänder der gesellschaftlichen Vereinbarung, dass Medien und Informationen für jeden zugänglich sein müssen, auch wenn man sich bei gefragten Titeln auf eine Warteliste setzen lassen muss. Dieses Prinzip darf nicht infrage gestellt werden.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2022.