Am 31. Oktober feiert die Initiative Hören ihr 20. Jubiläum. Karl Karst und Olaf Zimmermann sind von Beginn an dabei und haben den Weg des Hörens zur Etablierung als Kulturtechnik geebnet. Im Gespräch mit Theresa Brüheim werfen sie einen Blick zurück und definieren die Ziele für die nächsten 20 Jahre Initiative Hören.

Theresa Brüheim: Herr Karst, Sie hatten Anfang der 1990er Jahre die Idee zur Initiative Hören. Wie kamen Sie darauf?

Karl Karst: Am Anfang stand eine groß angelegte Radioreihe, die »Schule des Hörens«. Parallel zu den Manuskriptarbeiten hielt ich Vorträge über die »Geschichte des Ohrs« und gründete 1996 den »Projektkreis Schule des Hörens«. Dieser hatte das Ziel, didaktische Konzepte für das Hörenlernen umzusetzen. Zuerst entstand »Olli Ohrwurm und seine Freunde«, die »Schule des Hörens für Kinder«. Sie war das erste Medienpaket zum Hörenlernen für Kinder in Deutschland und wurde in über 20.000 Exemplaren gedruckt. Aufgrund des Erfolgs folgten schnell »Olli Ohrwurm für die Grundschule«, »Radio 108,8« und schließlich AUDITORIX. Insgesamt sind über 300.000 Bücher, CDs und CD-Roms erschienen, allesamt kostenfrei für die Endnutzer.

Da es in Deutschland keine übergeordnete Plattform für den Bereich des Hörens gab, sondern nur eine Vielzahl konkurrierender Institutionen hatte ich den Wunsch, ein lobby-übergreifendes Netzwerk für das Hören zu schaffen. Als Mitglied einer Expertenkommission des Umweltministeriums konnte ich die Idee einer Stiftung Hören platzieren, die sich als Pendant der Stiftung Lesen um alle Formen des Akustischen kümmern sollte. Um diese Idee umzusetzen, lud ich mit der Öffentlichkeitsarbeit des WDR zur Gründung einer »Initiative Stiftung Hören« ein, die sich am 2. März 2001 in Köln formierte. Unter den rund 30 Teilnehmenden war auch Olaf Zimmermann als Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, der das Projekt von Anfang an unterstützt hat.

Olaf Zimmermann und ich wurden als Sprecher bestimmt und erhielten den Auftrag, Partner für die Stiftung Hören zu finden. Sie sollten aus den Bereichen Kultur, Medien und Medizin stammen, die ich in der Stiftung zusammenführen wollte. Es war überraschend leicht, drei prominente Repräsentanten zu finden, die als Botschafter der Initiative Stiftung Hören aktiv wurden und am 12. Dezember 2002 zu einer gemeinsamen Pressekonferenz im ARD-Hauptstadtstudio zusammenkamen, um die Idee der Stiftung Hören zu kommunizieren. Es waren die damalige Bundesgesundheitsministerin, Ulla Schmidt, der damalige Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Fritz Pleitgen, und der damalige Präsident des Deutschen Kulturrates, Max Fuchs.

Das Weitere in Kurzform: Die Stiftung Hören stand vor ihrer Gründung, als ein kleinerer Verein einer anderen ARD-Anstalt hinter dem Rücken der anderen Initiativmitglieder eine Stiftung gründete, deren Namen bis auf zwei Buchstaben identisch war mit dem Namen der Stiftung Hören. Die Idee einer großen bundesweiten Stiftung Hören war damit aus niederen Konkurrenzmotiven attackiert und torpediert worden. Das hat mich damals extrem schockiert. Um der Verwechslungsgefahr zu entgehen, plädierten die Mitglieder dafür, zunächst auf das Wort Stiftung zu verzichten und die »Initiative Hören« als Dachverband ins Leben zu rufen. Er gründete sich am 31. Oktober 2003 in Köln und ist seither als größte lobbyübergreifende Plattform für das Hören in Europa aktiv.

Herr Zimmermann, Sie haben die Initiative Hören von Beginn an begleitet. Worin liegen Besonderheiten?

Olaf Zimmermann: Hören ist eine Kulturtechnik, die gelernt werden muss – genauso wie wir lesen lernen. Bevor diese Initiative gestartet ist, war das nicht allgemein bekannt. Natürlich hat man sich im Musikbereich immer Gedanken gemacht, wie man hört. Deswegen war es folgerichtig, dass der Wellenchef von WDR 3, dem Musiksender im Westdeutschen Rundfunk, Karl Karst, diese Idee hatte. Das Besondere war und ist, dass Karl Karst immer einen weiten Begriff vom Hören hatte. Er ist nicht bei der Musik stehen geblieben. Ich kann lernen, sowohl eine Fuge von Bach als auch eine Grille in der Natur zu hören. Beides muss man üben. Ein Erfolg ist nach 20 Jahren Initiative Hören, dass das Thema Hörenlernen ganz normal ist.

Und wie lernt man Hören?

Karst: Vor allem nicht mit erhobenem Zeigefinder oder der Androhung von Hörschäden! Das Motto der Schule des Hörens und seiner Projekte heißt: »Prävention durch Faszination«.

Damit meine ich: Man kann Verhaltensänderung nur durch Begeisterung und Faszination erreichen. Auf das Hören angewandt: Wenn Kinder oder auch Erwachsene das Faszinosum der akustischen Wahrnehmung sinnlich und nachvollziehbar erleben, werden sie ihr eigenes Hörorgan und auch die akustische Welt sorgfältiger, pfleglicher und rücksichtsvoller behandeln als zuvor. Meine Hoffnung ist, dass sich dieses Verhalten dann fortsetzt, von Generation zu Generation, und wir sukzessive eine angenehmere und gesündere Lautumgebung erhalten.

Hören hat in den letzten Jahren wieder eine kontinuierliche Bedeutungszunahme erfahren, unter anderem durch das Format Podcasts. Zugleich nimmt die Lärmbelästigung zu und damit Hörschäden bei Kindern und Jugendlichen. Wie bringen Sie das zusammen?

Zimmermann: Menschen hören bewusster als früher. Podcast ist ein Beispiel. Aber auch die Renaissance des Radios ist zu nennen. Natürlich haben wir auch eine Überlagerung des Hörens durch Lärm. Manchmal machen wir uns den Lärm selbst, z. B. durch laute Musik. Das bedeutet, dass wir andere Sachen nicht mitbekommen wie im Verkehr oder in der Natur. Wir blenden bestimmte Bereiche aus. Daher ist es eine Zukunftsaufgabe, zu lernen, das Faszinierende des Hörens wiederzuentdecken. Es geht dabei um den Zugang zu einer neuen Welt.

Karst: Ja, der Lärm hat zugenommen – aber ich bin zuversichtlich, dass durch die größer gewordene Bewusstheit über die Bedeutung der akustischen Umwelt und durch den Abbau von lauten Verbrennungsmotoren zugunsten elektrischer Mobilität eine deutliche Reduzierung der akustischen Emissionen hervorgerufen werden kann.

Von Beginn an war es das Ziel, die Wahrnehmung des Akustischen in der Politik und in der Gesellschaft spürbar zu verstärken. Wie ist es heute darum bestellt?

Karst: Das Ziel, ein gleichberechtigtes Nebeneinander von optischer und akustischer Wahrnehmung herzustellen, ist noch lange nicht erreicht. Die Gesetzgebung macht z. B. immer noch ein Plus bei der optischen Gewährleistung. Ein Beispiel: Ihr Kühlschrank hat einen Kratzer im Lack, dann können Sie aufgrund der Beschädigung ein neues Gerät verlangen. Wenn das gleiche Gerät aber durch zu wenig Kühlflüssigkeit den kleinen Kompressor viel häufiger drehen muss, das heißt, viel lauter ist und mehr Frequenzen abstrahlt, dann bekommt man nicht einfach einen neuen. Ein optischer Schaden hat eine höhere Gewährleistungsbedeutung als ein akustischer. Es gibt viele weitere Beispiele aus dem Alltag: So sind Museen teilweise in katastrophalen Zuständen. Wenn Sie Museen, die in den 1980er oder 1990er Jahren errichtet wurden, besuchen, hören Sie sofort, dass diese Museen nur mit dem Auge gebaut worden. Niemand hat darüber nachgedacht, dass ein unglaublicher Krach in einer mit Glas ausgestatteten Eingangshalle aufkommt. Das ist weder geistig stimulierend noch konzentrationsfördernd.

Herr Zimmermann, was gibt es Ihres Erachtens noch zu tun, und welche Rolle kann der Deutsche Kulturrat dabei spielen?

Zimmermann: Zum einen muss die Politik immer wieder daran erinnert werden, dass dies ein wichtiges Handlungsfeld ist. In den Städten kämpfen wir gut gegen Lichtverschmutzung. Dasselbe brauchen wir beim Thema Lärm. Wir müssen anfangen, von Lärmverschmutzung zu sprechen. Und diese Verschmutzung muss man beseitigen. Da gibt es durch neue Technologien gute Entwicklungen. Aber die Politik muss dranbleiben.

Zum anderen muss Hören als Kulturtechnik in allen Altersstufen ein Thema sein. Es braucht Unterstützung beim Hörenlernen und Erfahrungsammeln. Die Initiative Hören hat eine Tür geöffnet. Aber jetzt müssen die Menschen auch durch diese Tür gehen. Das wird die Arbeit der kommenden Jahre sein.

Lassen Sie uns zu einem Ausblick kommen.

Karst: Es gibt noch viel zu tun bis zu einer Gleichberechtigung der Sinneswahrnehmungen. Kein Sinnesorgan ist dem anderen übergeordnet. Und folglich ist auch keines dem anderen untergeordnet. Faktisch aber haben wir eine Dominanz des Optischen – bis weit in den Alltag und in die Gesetzgebung hinein. Aktuelles Beispiel: Die akustisch und optisch »tiefergelegten« Motorräder. Das sind oftmals militärisch aussehende Monster-Motorräder, die mit extrem tiefen Frequenzen und oft auch mit Fehlzündungen bewusst und gewollt an Kriegsgerät erinnern und Angst einflößen. Auch wenn es trivial ist: Was die betreffenden Fahrer an diesen Maschinen begeistert, ist deren angsteinflößende Akustik und Optik. Es geht um individuelles Imponiergehabe, um akustische und optische Vergrößerungsgebärden. Es geht darum, sich stark zu fühlen, weil man laut sein für stark sein hält. Das ist bekannt. Weniger bekannt und kaum gesetzlich beachtet ist die Tatsache, dass diese Geräusche nachweislich krank machen und Lebensenergie von unbeteiligten Passanten und Anwohnern verbrennen, ohne dass sich Letztere davor schützen können. Sie bewirken im vegetativen Nervensystem unwillkürliche Stressreaktionen mit stark erhöhtem Adrenalinausstoß und entsprechenden Gegenreaktionen, die dauerhaft zu gesundheitlichen Schäden führen können.

Das heißt: Für das Individualvergnügen einzelner Personen müssen Hunderte, wenn nicht Tausende Bürger leiden und mögliche gesundheitliche Schäden in Kauf nehmen. Hier braucht es gerechtere gesetzgeberische Maßnahmen, die das Schutzinteresse der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber dem Individualvergnügen einzelner Personen höher bewertet und den »Spaß« aggressiver Motorradfahrer zugunsten der Gesundheit der Bürgergesellschaft in seine Grenzen setzt.

Zimmermann: Ich denke, das Wunderbarste, was die Initiative Hören machen kann, ist Menschen zu zeigen, was sie hören können und was sie bisher noch nicht gehört haben.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2023.