Im ersten Quartal dieses Jahres hat das hessische Kabinett den sogenannten »Masterplan Kultur« beschlossen. Dabei handelt es sich um einen Kulturentwicklungsplan, der in einem Beteiligungsprozess entstanden ist. Dieser soll die Leitplanken für eine zeitgemäße Kulturpolitik setzen – wie diese genau aussehen soll, hat Sandra Winzer bei der hessischen Kulturministerin Angela Dorn erfragt.

Sandra Winzer: Das Hessische Kabinett hat den »Masterplan Kultur« beschlossen und der Öffentlichkeit vorgestellt. Worum geht es?

Angela Dorn: Wir haben diesen Masterplan in einem umfassenden Beteiligungsprozess mit verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aus der Kultur erarbeitet. Unser Ziel: Perspektiven schaffen für eine Kulturpolitik für alle und Handlungsempfehlungen für eine Kulturpolitik der nächsten Jahre. Wie können wir es schaffen, dass breite gesellschaftliche Schichten an Kunst und Kultur teilnehmen können? Der Austausch mit allen »Kultur-Beteiligten« war dabei immens wichtig. Der »Masterplan Kultur« ist der erste, der nach der Coronapandemie Empfehlungen auf die Fragen gibt: Wie können wir uns krisenresilienter in der wunderbaren Vielfalt der Kultur aufstellen?

Es gab eine breite Beteiligung: 18 Fachworkshops, 330 Expertinnen und Experten aus Kultur und Gesellschaft, drei Regionalforen in Nord-, Süd- und Mittelhessen, rund 170 Anregungen von Bürgerinnen und Bürgern in der Online-Beteiligung. Warum war dieser umfassende Prozess notwendig?

Wir haben einen großen Schatz in Hessen, das ist die Vielfalt der Kultur. Die wollen wir stärken. Sie erstreckt sich von einem kleinen Verein für Orchester- und Blasmusik im ländlichen Raum bis hin zum Frankfurter Städelmuseum und großen Staatstheatern. Von Film bis hin zur Musik. Das zeichnet unser Bundesland aus. Deswegen war uns die breite Vorbereitung wichtig. Von der professionellen Struktur staatlicher Einrichtungen hin zu kleineren oder ehrenamtlichen Strukturen wollen wir alle erreichen, auch alle Regionen in Hessen. Ländlichere Regionen müssen häufig mit weniger Mitteln arbeiten, sollen Kultur aber genauso genießen dürfen.

Zwischenzeitlich ist eine Pandemie durch die Gesellschaft und die Kulturlandschaft getobt. Welche Probleme und Chancen haben sich in dieser Zeit geboten?

Wir haben gemerkt: Das, was Kultur ausmacht, ist der Kontakt, und genau das hat sie so verletzlich gemacht. Kontakt war plötzlich gefährlich. Wir mussten Hilfspakete schnüren für eine neue Situation, Kultureinrichtungen ohne Besucherinnen und Besucher, und dafür sorgen, dass diese Hilfe tatsächlich ankommt. Wir hatten drei Coronapakete. Mit jedem weiteren Paket haben wir dazugelernt.

Ein Beispiel ist die Frage der Beratung durch Verbände. In der Pandemie hatten wir prinzipiell nicht zu wenige Mittel zur Verfügung. Problematischer war für Kreative der Überblick, zu sehen: Wo gibt es die richtige Hilfe für mich? Dafür haben wir eine Verbändeberatung aufgesetzt, die wir im Masterplan fortgesetzt haben. Es ist wichtig, solche Strukturen zu professionalisieren und dadurch auch resilienter zu machen.

Ein anderes Beispiel: Wir mussten in Coronazeiten kreativ agieren. Ich hatte viele schlaflose Nächte, weil wir uns von einem auf den anderen Tag überlegen mussten, wie man Kultureinrichtungen, in die kein Publikum kommen durfte, unterstützen kann. Im Nachhinein erscheint alles logisch. Auf die richtigen Ansätze aber erst einmal zu kommen, war ein Kraftakt. Mittlerweile gibt es eine Förderrichtlinie, mit der Menschen im Kulturbereich mit deutlich weniger Bürokratie Förderanträge stellen können und Kulturschaffende somit leichter an Fördermittel rankommen.

Und wir haben auch gemerkt, dass die Frage der Absicherung von freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern ein Problem ist. Es ging darum, Hilfsprogramme so zu schnüren, dass sie Künstlerinnen und Künstler sozial gegen solche Krisen absichern. Aber wir haben auch gesehen, dass manche Themen bundesweit angegangen werden müssen, wie etwa die soziale Absicherung von Künstlerinnen und Künstlern. Es ist wichtig, die Künstlersozialkasse (KSK) so zu reformieren, dass sie für ein breites Spektrum an Künstlerinnen und Künstlern auch tragfähig ist.

Die »Perlen in den ländlichen Räumen«, von denen Sie sprechen, sind ein Schwerpunkt in Ihrem Masterplan. Es geht um die Frage: Wie bringt man Kulturangebote dorthin, wo es noch nicht viele Museen oder Theater gibt? Welche Möglichkeiten sehen Sie, die ländliche Kultur in Hessen stark zu machen?

Ein Programm, das wir haben, sind die »LandKulturPerlen«, die wir jetzt in ganz Hessen nutzen. Es wäre fatal, zu denken, dass wir die Kultur aus den urbanen Regionen in den ländlichen Raum exportieren müssten. Das Gegenteil ist der Fall; wir haben tolle Kultureinrichtungen und -schaffende im ländlichen Raum. Ich war gerade in Alsfeld und habe dort das Museum besucht. Es gibt Perlen und kulturelle Begegnungsorte im ländlichen Raum. Wir helfen den Orten, indem wir z. B. kleine Bibliotheken, Initiativen und einzelne Kulturschaffende mit Mikrofördermitteln professionalisieren und vernetzen. Was neu ist, war die Frage: Wie können wir Kultur als wichtigen Anker dazu nutzen, auch die Innenstädte wieder zu beleben? Wie können wir sie in leere Schaufenster bringen für neue Begegnungszentren? Die Grenzen verfließen, das ist auch gut so. Deshalb wollen wir in einem Pilotprojekt gemeinsam mit den Kommunen beispielhaft »Dritte Orte« entwickeln, Orte also, die z. B. Kunst und Kultur mit kommunalen Dienstleistungen oder Einzelhandel an einem Ort bündeln.

Seit 2018 haben Sie sich immer wieder mit Menschen aus der Kulturszene zusammengesetzt, darunter auch Musikerinnen, Kinobetreibende und Schauspielverbände. Welche Aussagen aus diesen Gesprächen waren für Sie für den Masterplan ausschlaggebend?

Es waren keine einzelnen Aussagen, aber es gab spannende Debatten zwischen den Kulturschaffenden zum Verhältnis von freien Trägern und staatlichen Einrichtungen. Gerade in der Pandemie gab es hier einen Gap, die soziale Absicherung betreffend. Ich fand es schön zu sehen, dass in dieser Konkurrenzsituation die Kooperation und die Frage, wie man sich gegenseitig unterstützen kann, wichtiger waren. Mich hat tief bewegt zu erleben, wie sich Kulturschaffende in einer existenzbedrohenden Situation gegenseitig unterstützt und konstruktive Kraft nach vorn gerichtet haben. Bei der Frage, wie wir Stück für Stück Kultur für alle Wirklichkeit werden lassen können, überschreiten wir Institutionsgrenzen und es finden sich neue Partnerinnen und Partner. So etwas gelingt nur, wenn man sich auf Augenhöhe begegnet und sich gegenseitig zuhört.

Im Masterplan kommt der Kulturförderung von Kindern eine besondere Rolle zu. Er soll sie für Kultur begeistern, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Dabei spielen Schulen und Kindergärten auch eine Rolle. Inwiefern?

Tatsächlich ist das ein großes Thema. Nicht nur bezogen auf die frühkindliche Bildung, sondern in Bezug auf alle Altersstufen. Am Ende geht es darum, dass niemand Schwellen zu Kultureinrichtungen als abschreckend wahrnimmt. Wir haben noch immer die Problematik, dass z. B. Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien deutlich höhere Hürden empfinden und seltener in ein Museum gehen. Diese Hürden wollen wir abbauen. Kulturelle Bildung ist maßgeblich für die Persönlichkeitsentwicklung; es geht um einen ganzheitlichen Bildungsanspruch und darum, die Welt aus unterschiedlichen Perspektiven wahrnehmen zu können. Zum einen wollen wir die kulturellen Institutionen und Landeseinrichtungen selbst in ihrer Bildung stärken. Zum anderen muss es um die Frage gehen, wie wir die Schnittstelle zwischen Schule und Kultur verbessern können. Wir wollen ein Institut für kulturelle Bildung voranbringen, wo Wissenschaft, Schulen und Kultureinrichtungen vernetzt sind. Und ein Portal, das Projekte darstellt, sodass Vereine, Schulen und Kindergärten sagen können: »Ich buche mir meine/n Künstler/in vor Ort in die Schule hinein.« Denn häufig erleben wir, dass hier einfach die Kontakte fehlen. Das wollen wir vereinfachen.

Mehr Kultur für Kinder, mehr Kultur im ländlichen Raum – es geht Ihnen um eine Kulturpolitik für alle. Was bedeutet in die-sem Zusammenhang für Sie eigentlich »Kultur«?

Das ist eine spannende Frage. Denn tatsächlich habe ich einen sehr breiten Kulturbegriff. Kultur fängt an bei dem ehrenamtlichen Engagement eines Chores, der sich in einem kleinen Dorf gründet, und geht bis hin zu einem Staatstheater. Von den freien Trägern der Soziokultur bis hin zur exzellenten Kunsthochschule. Das Großartige an Kultur ist, dass es keinen Richter gibt, der wertet, wie hochwertig Kultur ist oder sein muss, um als solche zu gelten; Kultur lebt davon, dass sie vielfältig ist. Sie lebt davon, dass sie auch bahnbrechend und provozierend sein darf. Nur aus dieser innovativen Breite heraus findet jeder Mensch etwas, das ihm gefällt; die Geschmäcker sind ja, Gott sei Dank, unterschiedlich. Kultur darf auf der Straße stattfinden, in der freien Natur, aber auch in wunderbaren kulturellen Einrichtungen. Damit sind die Grenzen fließend, und das ist auch gut so.

Durch den Masterplan sind 7 Millionen Euro bis 2024 zusätzlich für den Kultursektor in Hessen veranschlagt. Wie wollen Sie dieses Geld verteilen?

Der Masterplan soll nicht nur ein Papier, sondern ein Handlungsauftrag sein, mit dem wir arbeiten und miteinander ringen können. Deshalb haben wir eine Vision gesetzt mit Handlungsempfehlungen und dann haben wir uns die Arbeit gemacht, zu fragen, welche Maßnahmen notwendig sind, damit die Ideen wirklich umgesetzt werden können. Aus diesen Maßnahmenvorschlägen gibt es bereits die ersten, die wir nun mit den zusätzlichen Mitteln finanzieren – dafür sind die 7 Millionen, die zum vorhandenen Kulturetat kommen. Dabei sind Digitalisierungsprojekte, Projekte zur kulturellen Bildung, die »Leerstandsbörse« für neue Begegnungen und neue Kulturgüter.

Kritik zum Masterplan gab es aus der Opposition; die SPD sah Ihre Vorstellung als Wahlkampfmanöver zu Beginn eines Wahljahres und forderte mehr konkrete Ansagen. Außerdem wurde die Stärkung von Bibliotheken angesprochen. Was sagen Sie den Kritikerinnen und Kritikern?

Die Forderung nach mehr klaren Ansagen hat mich damals irritiert zurückgelassen, ich habe wenig Belege für nicht konkret Formuliertes in unserem Masterplan gefunden. Wenn man sich die Masterpläne Kultur, die bundesweit entstanden sind, anschaut, gehören wir in Hessen definitiv zu jenen, die sehr konkrete Lösungsansätze beschreiben. Ich lasse mir gern Stellen zeigen, wo das nicht so ist.

Bibliotheken sind im Masterplan sehr wohl ein Thema, auch Musikschulen werden besprochen. Wir wollen einen Pakt mit den Musikschulen schnüren, um zu schauen, wie wir gemeinsam besser werden können. Für Bibliotheken haben wir ein großes Förderprogramm für die Digitalisierung aufgesetzt. Zunächst sind beides aber kommunale Aufgaben.

Der Vorwurf des Wahlkampfmanövers ergibt keinen Sinn. Die Vorarbeiten für den Masterplan haben schon in der vergangenen Wahlperiode begonnen; wir hatten einen mehrjährigen Beteiligungsprozess. Dabei hatten wir die Schwierigkeit, dass wir in der Pandemie alles nur digital absolvieren konnten. Um das auszugleichen, haben wir Geld in die Hand genommen, um die Beteiligungsphase noch einmal zu vertiefen. Das fand auch Zuspruch bei den Kulturschaffenden. Durch die Pandemie hat sich also der Prozess etwas verzögert.

Der 50 Seiten schwere Katalog soll die Kultur in Hessen in den nächsten zehn Jahren begleiten. Halten Sie das für realistisch?

Wir haben den Masterplan absichtlich so geschrieben, dass er Handlungsempfehlungen für die kommenden zehn Jahre realistisch trägt. Er ist kompakt genug, um kommenden Regierungen ausreichend Gestaltungsspielraum zu lassen. Trotzdem vereint er Empfehlungen aus dem Kulturbereich, die in den wichtigsten Feldern die bestmögliche Weiterentwicklung möglich machen. Ich möchte natürlich, dass der Masterplan in kommenden Koalitionsverhandlungen für das Programm für die Kultur herangezogen wird. Ich glaube, er ist in solch vielfältigen Bereichen ein Schatz, der Priorisierungen aufzeigt und deutlich macht, was als Nächstes angegangen werden kann.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.