Deutschland streitet. Über Zuwanderung. Über den Klimawandel oder das neue Heizungsgesetz. Über die Wohnungsnot und Putins Angriffskrieg auf die Ukraine. Auch der Kulturausschuss im Deutschen Bundestag hat jetzt ein Streitthema wiederentdeckt, das eigentlich keines mehr war: die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in die Verfassung.

Denn die Vertreter der Union in diesem Ausschuss legen sich plötzlich quer und wollen keine Notwendigkeit mehr für das Staatsziel Kultur erkennen, was eine Abkehr von der Linie bedeutet, die selbst die ehemalige CDU-Kulturministerin Monika Grütters vertrat. Neue Argumente für diesen Schwenk waren in der Ausschusssitzung indes nicht zu hören. Es waren wieder die alten, vor allem verfassungsrechtlichen Bedenken, die längst ausgeräumt schienen und es jetzt doch nicht sind.

Überzeugt hat das die Mehrheit der Ausschussmitglieder keineswegs und so stand – wie der berühmte weiße Elefant – die Frage im Raum, was die wirklichen Motive für diesen Sinneswandel wohl sind. Man könnte sie im üblichen Rollentausch von Regierung und Opposition sehen, der häufig zu einer anderen Bewertung der Dinge führt. Trotzdem ist nicht verständlich, warum ausgerechnet nach den Erfahrungen in den Coronajahren die Union ihre frühere Zustimmung revidiert. Denn natürlich wurde mit einem Mal deutlich, wie schutzlos die Kultur doch plötzlich in all ihren Existenzformen nach wie vor ist. Mit einem Mal war sie doch wieder nur Ornament und keine Grundvoraussetzung für eine freiheitliche Daseinsvorsorge, was mich an den legendären Satz eines schwäbischen Kommunalpolitikers erinnerte: »Kultur ischt eben mein Hobby.« Aber Kultur ist eben alles andere als Hobby, und dass jeglicher politischer Flankenschutz hilfreich sein kann, das wurde im Ausschuss wiederholt deutlich. Die Union, das muss man leider so sagen, bleibt auf diesem Gebiet eine rührend unmusikalische Partei.

Aber auch wenn sie sich wieder hinter staatsrechtlichen Bedenken verschanzt, so muss man der Union doch ein feines Gespür dafür attestieren, was sich in der Staatszieldebatte inzwischen verändert hat. Das lässt sich an den Formulierungen ablesen. Nicht die Kultur solle plötzlich das Staatsziel sein, sondern die Kultur in ihrer Vielfalt, was entweder ein schlichter Pleonasmus ist oder doch eine Umakzentuierung bedeutet. Es geht plötzlich gar nicht mehr um ein möglichst weit gefasstes, grundsätzliches Staatsziel Kultur, dem alle politischen Parteien zu früheren Enquetezeiten zustimmen konnten. Es geht jetzt wohl um eine eindeutig politische Fokussierung, die dem Gesellschaftsmodell der rot-grünen Koalitionsparteien entspricht. Nicht der Schutz der Kultur in ihrer bewussten Unbestimmtheit soll künftig das neue Staatsziel sein, sondern die Förderung einer diversen Gesellschaft. Und dass beides offenbar nahezu synonym verstanden wird, nimmt der Debatte ihre ideologische Unschuld. Es gibt danach eben keine verbindenden Traditionen mehr und auch kein gemeinsames kulturelles Erbe. Und wie es der tückische Zufall so will, entzündete sich an Goethe und Schiller die Kontroverse. Denn ein argloser Mensch aus der Bundestagsverwaltung hatte das Weimarer Denkmal der beiden dem Ausschuss als Leitbild vorangestellt, was natürlich sofort als böses Indiz verstanden wurde für den Rückfall in alte, weiße kulturpolitische Zeiten. Was sollen Klassiker denn noch bedeuten, wenn man sie längst aus dem verbindlichen Schulstoff verbannt hat?

Aber hinter solchen Kanondebatten steht eine weitaus wichtigere Frage: Welches geistige, welches symbolische Erbe hält unsere Gesellschaft in Zukunft zusammen? Nur darüber ließe sich doch ein Staatsziel begründen. Im anderen Fall aber verlöre die Kultur ihre integrierende Kraft und würde zu einem trennenden Kampfbegriff im aktuellen identitären Konflikt. Vielleicht ist genau das die Absicht, aber dann sollte man es auch offen sagen und nicht so tun, als sei man vom Meinungswandel der Union überrascht.

Sicherlich war Kultur nie unschuldig und hatte immer eine machtpolitische Dimension. Sie war nie das schöne Refugium, das der bürgerlichen Seele gefiel. Aber in allen Kontroversen hat sie ihre Rolle doch selten in Gänze verloren, der vernünftigste Ort zu sein, wo eine freie Gesellschaft sich selbst erfindet. Dazu bedarf es der Symbole und der Rituale und eines gemeinsamen kulturellen Gedächtnisses, auf das sich alle Bürger eines Landes verständigen können, egal welcher Herkunft sie sind; ein Gedächtnis, das über die Zeiten und allen Wandel hinweg die Generationen miteinander verbindet. Eine gemeinsame Kultur hilft, das Partikulare in einer Gesellschaft zu überwinden; sie ficht nicht nur ihre Konflikte aus. Und im Idealfall, um beim verzopften Beispiel von Goethe und Schiller zu bleiben, wird die eigene Kultur zugleich universal.

Das Unbestimmte und Partikulare hingegen als Staatsziel festschreiben zu wollen, kann nicht Ziel dieser Initiative sein. Was jetzt als Debatte über die Rolle der Kultur geführt wird, ist in Wahrheit eine Debatte über unsere sich atomisierende Gesellschaft und über die Frage, wie man sie wieder zusammenführt. Wir müssen das tatsächlich jetzt dringend verhandeln und darüber streiten, was in unserem Land künftig sichtbar sein soll und was nicht. Und wir müssen uns wohl oder übel wieder auf einen gemeinsamen Lebenskanon einigen, der uns kennzeichnet und uns auch für jedermann kenntlich macht.

Machen wir doch aus der Staatszielfrage das, was sie in ihrem Kern längst ist: die Grundsatzdebatte über unsere Kulturnation, wie sie beschaffen ist und wie sie womöglich noch werden soll. Es reicht nicht, den alten, den altmodischen offenen Kulturbegriff identitätspolitisch aufbohren zu wollen. Auch eine diverse Gesellschaft sollte sich einigen können; auch sie braucht einen gemeinsamen politischen Raum und ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis. Die Staatszieldebatte über Kultur könnte dafür ein Anfang sein. Man täte ihr einen Tort an, sie voreilig zu verengen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.