Es ist kalt, ein grauer Herbsttag. Es nieselt. Ein Tag wie viele andere. Historische Ereignisse kündigen sich nicht mit großem Paukenschlag an. Kein Blitz und Donner. Kein Deus ex machina. Das Historische spiegelt sich im Gewöhnlichen. Worte, die sonst kaum auffallen, können im richtigen Moment Macht entwickeln. Ich sitze in einem Café in Berlin. Ein Freund schickt mir ein Video auf Instagram und kommentiert es mehr als knapp: »Es ist so krass«, schreibt er. Das Vorschaubild spiegelt die Atmosphäre besser wider als der aktuelle Wetterbericht. Die gezeigten Menschen tragen Winterjacken und auch bei ihnen scheint der Himmel grau zu sein. Der graue Stein des »Mahnmals für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah« am Wiener Judenplatz hebt sich ab. Der Kaffee und die Neugier machen wach. Ich drücke Play, und meine Augen erblicken etwas, das seit Jahren in der Popkultur als jüdischer Widerstand bezeichnet wird. Seit einigen Jahren habe ich mit meinem Co-Autor Ruben Gerczikow historische Ereignisse dokumentiert, die auch Ausdruck eines solchen Widerstands waren. Im Jahr 1985 besetzten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt die Bühne des Schauspiels Frankfurt und verhinderten damit die Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod«, das als antisemitisch kritisiert wurde. Im Oktober 1992 protestierten französisch-jüdische Aktivisten, unter ihnen Serge und Beate Klarsfeld, vor dem Hintergrund der rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen und der deutsch-rumänischen »Rücknahmevereinbarung« gegen die Abschiebung von Roma.
Das, was ich auf dem Video sehe, erinnert mich an den Mut dieser Ereignisse: Zu sehen ist der Präsident des Nationalrates, Walter Rosenkranz. Dieser versucht, mit Hilfe von Polizisten eine friedliche Blockade zu durchbrechen, die sich um das Mahnmal aufgebaut hat. Es sind die Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen (JöH). Unter ihnen ist auch der Jurist und ehemalige JöH-Präsident Bini Guttmann. Zuvor hatte bereits eine Gedenkveranstaltung der Israelitischen Kultusgemeinde Wien anlässlich der Novemberpogrome stattgefunden. Zu dieser war der Nationalratspräsident allerdings nicht eingeladen. Der Grund dafür? Der ist auf einem Banner zu lesen, mit dem die Demonstrierenden das Mahnmal abschirmen: »Wer Nazis ehrt, dessen Wort ist nichts wert. Kein Gedenken mit Rosenkranz & FPÖ«.
Als bekannt wurde, dass nach dem Wahlsieg der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) der FPÖ-Politiker Walter Rosenkranz neuer Präsident des Nationalrates werden soll, formierte sich Widerstand. Kritisiert wurde nicht nur, dass die Partei als Sammelbecken für Alt-Nazis gegründet worden war, sondern auch die Person Rosenkranz selbst. So hatte ihn zum Beispiel der Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses Ariel Muzicant als »Kellernazi« bezeichnet. Begründet hatte er das damit, dass Rosenkranz Mitglied der schlagenden Wiener akademischen Burschenschaft Libertas ist, über die Der Standard 2018 berichtet hatte, dass sie 1878 als erste Burschenschaft eine Art »Arierparagraph« eingeführt hatte. Bei einem Rundgang im Haus der Libertas konnte der Standard-Reporter Gerald John das Porträt eines bärtigen Verbindungsveteranen erspähen. Dabei handelte es sich um Georg Ritter von Schönerer, den Hannah Arendt als den »geistigen Vater Adolf Hitlers« bezeichnet hatte. Doch es geht nicht nur um Rosenkranz’ Kontakte, sondern auch um seine eigenen Handlungen: 2009 verfasste er einen Beitrag für den Sammelband »150 Jahre Burschenschaften in Österreich«. In diesem hatte Rosenkranz nationalsozialistische Täter als »Leistungsträger« bezeichnet. Darunter war ein Generalstaatsanwalt, der noch im April 1945 über 40 politische Häftlinge erschießen ließ.
Es war nicht das erste Mal, und es wird auch nicht das letzte Mal sein, dass ein Politiker von Rechtsaußen das Gedenken an die Millionen Opfer des industriellen Massenmords missbrauchen will. Man könnte nun vom Protest der Jüdischen Studierenden überrascht sein. Ist es nicht genau das, was man von den extremen Rechten fordert? Dass sie sich mit der Geschichte auseinandersetzen? Allerdings geht es hier nicht um eine tatsächliche Auseinandersetzung mit der NS-Täterschaft. Es geht um den Versuch, das Gedenken für die eigene Inszenierung zu nutzen. Man stellt sich vermeintlich in einen »erinnerungskulturellen Konsens«, um die eigene Bürgerlichkeit zu mimen. Doch wie wir angesichts vieler Aussagen von FPÖ-Chef Herbert Kickl über die von AfD-Politikern wie Björn Höcke, Alexander Gauland, Alice Weidel und Maximilian Krah bis hin zur selbsterklärten »Neofaschistin« und italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni wissen, denkt man in Wirklichkeit ganz anders.
Deshalb ist dieser Widerstandsakt historisch. Mitglieder einer jungen jüdischen Organisation haben sich der Exekutive widersetzt. Diese Exekutive sollte das Recht eines Politikers durchsetzen, der das dritthöchste Staatsamt für seine persönliche Inszenierung nutzen wollte. Rosenkranz belehrte die Nachkommen von Shoah-Überlebenden und Angehörigen ermordeter Jüdinnen und Juden, »Respekt vor der österreichischen Demokratie zu haben«. Guttmann antwortete, dass man nicht mit Rosenkranz gedenken wolle.
Wörter haben Macht. Mutige Jüdinnen und Juden haben in Wien Wörter genutzt und einem extremen Rechten friedlich Grenzen aufgezeigt. Die Ereignisse dieses Tages sind historisch, weil sie erneut veranschaulicht haben, dass Jüdinnen und Juden keine Objekte sind, sondern sich wieder und wieder zur Wehr setzen. Und wenn ein extrem rechter Politiker in das dritthöchste oder gar höchste Amt des Staates kommt, wird dies nichts daran ändern, dass Widerstand zur Pflicht wird. Das ist die logische Konsequenz einer Erinnerungskultur, die sich aus ihrer Starrheit befreit. Das ist die logische Konsequenz historischer Verantwortung. Und das ist das richtige Mittel gegen den globalen Rechtsruck.