Frieden, Stabilität und Kontinuität. Diese Worte stehen sinnbildlich für die Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. In Europa wuchs die vermeintliche Gewissheit, dass elementare Fragen von Krieg, Tod und Verwundung in der persönlichen Lebenswelt kaum eine Rolle mehr spielen würden. Was Krisen und Konflikte anging, mag man im Nachhinein fast meinen, Deutschland und Europa waren Inseln der Glückseligkeit. Krieg und Gewalt waren an die Peripherie des öffentlichen Bewusstseins gerückt. Wir waren schließlich von Freunden umgeben.

Heute ist der Krieg mit seinen Folgen wieder von der Peripherie in das Zentrum gesellschaftlicher Wahrnehmung gerückt. Schmerzhaft müssen wir realisieren, dass auch in der Mitte Europas ein Leben in Frieden und Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist. Die internationale Ordnung, die wir auf der Stärke des Rechtes und nicht auf dem Recht des Stärkeren begründet sehen wollen, wird immer öfter und offener herausgefordert.

Besonders sichtbar zeigt sich diese Herausforderung im grausamen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Seit bald zwei Jahren kämpfen tapfere Ukrainerinnen und Ukrainer gegen den russischen Aggressor und für ihre Freiheit. Der Krieg vor unserer Haustür hat bis heute nichts von seinem Schrecken verloren. Für uns steht fest: Eine gewaltsame, willkürliche Veränderung der politischen Landkarte Europas werden wir nicht hinnehmen.

Auch die Terrororganisation Hamas hat mit ihrem barbarischen Angriff am 7. Oktober 2023 schreckliches Leid über viele unschuldige Menschen gebracht. Sie hat die bereits instabile Region an den Rand des Abgrunds geführt. Der Ausgang ist ungewiss, aber bereits jetzt steht fest, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Unser Platz ist dabei fest an der Seite Israels. Wir haben die historische Verantwortung, Israel im Rahmen unserer Möglichkeiten zu unterstützen. Es gibt keinerlei Rechtfertigung für den barbarischen Terrorakt der Hamas.

Nicht nur der Blick in die Ukraine oder nach Israel, sondern auch in den Jemen, auf den Westbalkan oder in die Sahel-Region zeigt: Frieden ist ein kostbares und zerbrechliches Gut.

Wir müssen uns wieder darauf einstellen, dass unsere Verbündeten und auch wir selbst im äußersten Fall angegriffen werden können. Das erfordert Wehrhaftigkeit. Eine wehrhafte Demokratie muss in der Lage sein, einen potenziellen Aggressor von einem Angriff abschrecken und sich im Ernstfall verteidigen zu können. Dafür müssen wir im Bündnis einen Verteidigungskrieg glaubhaft führen und gewinnen können. Die zeitgemäße Landes- und Bündnisverteidigung leitet sich aus dieser Notwendigkeit als Kernauftrag der Bundeswehr ab.

Unsere Sicherheit und die Funktionsfähigkeit unseres Staates werden aber nicht nur militärisch-konventionell herausgefordert. Auch verdeckte Angriffe auf unsere kritische Infrastruktur, Cyberangriffe, Desinformation und Propaganda, sogenannte hybride Bedrohungen, gefährden uns. Um diesen zu begegnen, reichen militärische Fähigkeiten allein nicht aus. Hierfür bedarf es der Resilienz und Wehrhaftigkeit der ganzen Gesellschaft und unseres freiheitlich-demokratischen Staates.

Wie wir mit all diesen Herausforderungen, Konflikten und Kriegen umgehen, ist beeinflusst von unserer Wahrnehmung der eigenen Geschichte. In jeder Generation kommen prägende Erinnerungen hinzu. Sie beeinflussen unser Handeln in Gegenwart und Zukunft.

Die Generation meiner Eltern war geprägt durch zwei zentrale Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg: »Nie wieder Krieg« und »Nie wieder Auschwitz«. Heute haben diese Sätze auch mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den terroristischen Angriff der Hamas auf Israel eine bedrückende Aktualität. Sie mahnen uns unverändert.

Seit Aufstellung der Bundeswehr war ihre Geschichte durch die schrecklichen Erfahrungen aus den beiden Weltkriegen geprägt. Der Volkstrauertag und die Unterstützung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. waren wichtige Elemente der frühen Erinnerungskultur. In Abgrenzung zu dem in der Vergangenheit Erlebten waren die Innere Führung als Führungs- und Organisationsphilosophie der Bundeswehr sowie der Staatsbürger in Uniform direkte Folgerungen aus dem Schrecken des Nationalsozialismus. Unsere freiheitlichen Werte sollten das Fundament des Dienstes in den Streitkräften bilden, das Gewissen die letzte Entscheidungsinstanz.

Später politisierten sich große Teile der Nachkriegsgeneration vor allem durch die Fragestellungen des NATO-Doppelbeschlusses und der Friedensbewegung in den 1980er Jahren. Auch mich trieben diese Diskussionen als junger Mann um. »Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen« war das prägende Schlagwort der Bundeswehr dieser Jahre, immer im drohenden Schatten eines möglichen Nuklearkrieges.

Mit dem Beginn der bewaffneten Auslandseinsätze wurde die Lebensrealität für viele Soldatinnen und Soldaten eine andere. Sie mussten sich im Ausland im Gefecht bewähren und lernen, mit Tod und Verwundung umzugehen. Dies zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland noch darüber diskutiert wurde, ob die Dinge beim Namen zu nennen seien. In der Erinnerungskultur der Bundeswehr sind die im Auslandseinsatz gefallenen und verstorbenen Soldatinnen und Soldaten heute fest verankert. Die vielen Ehrenhaine sind ein sichtbarer Ausdruck dessen.

Gedenken findet oft in Stille statt. Ich bin aber fest überzeugt: Wir brauchen öffentlich zugängliche Räume, wie das Ehrenmal der Bundeswehr auf dem Gelände des Bundesministeriums der Verteidigung in Berlin oder den Wald der Erinnerung auf dem Gelände des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr in Geltow.

Sie machen für die Betroffenen den Tod einer Kameradin oder eines Kameraden begreif- und fassbar. Sie bieten als zentrale Erinnerungsorte einen Raum zur Auseinandersetzung mit der Frage, was Krieg bedeuten kann und welch hohen Preis er fordern kann.

Diejenigen Soldatinnen und Soldaten, an die wir erinnern und diejenigen, die durch Erlebnisse ihres Dienstes bis heute geprägt sind, waren und sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform. Mandatiert durch unser Parlament, auf Grundlage unserer Werte. Ich halte eine aktive, auch von der Gesellschaft getragene Veteranen- und Gefallenenkultur daher für besonders wichtig. Den kürzlich erfolgten parlamentarischen Vorstoß für die Einführung eines Veteranentages habe ich daher befürwortend wahrgenommen.

Zu Recht wurde von Soldatinnen und Soldaten, die aus Auslandseinsätzen zurückkehrten, gefordert, dass auch Deutschland eine Veteranenkultur brauche. Dank der Initiative von Hinterbliebenen und Interessenverbänden sind wir heute einen großen Schritt weiter.

Die heutige Zeitenwende hat in Deutschland zu einer neuen Diskussion über das Verhältnis zu Krieg und Wehrhaftigkeit geführt. Viele sind der Überzeugung, dass eine wehrhafte Demokratie auch gut aufgestellte und ausgerüstete Streitkräfte benötigt. Diese Überzeugung reift aber nicht vom einen auf den anderen Tag, sie ist eine Generationenaufgabe. Wichtig ist dabei, dass wir auch schwierige Themen offen und ohne Tabus diskutieren können. Wir brauchen eine offene gesellschaftliche Diskussion darüber, was Resilienz, Widerstandsfähigkeit und Opferbereitschaft bedeuten und welchen Beitrag die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes dafür leisten wollen. Der Staat kann den gesetzlichen Rahmen vorgeben, aber er braucht die Menschen, die ihn mit Leben erfüllen.

Dabei spielt unsere Geschichte eine maßgebliche Rolle. Sie beeinflusst einerseits, wie wir auf die Welt schauen. Andererseits bestimmt sie, wo wir uns politisch und mit Blick auf unsere Wertevorstellungen verorten. Die West-Bindung ist und bleibt ein Fundament unserer verteidigungspolitischen Ausrichtung. Bei allem, was wir tun, suchen wir stets den Schulterschluss mit unseren Partnern und Alliierten. Sie erwarten zu Recht von uns, dass wir eine Führungsrolle einnehmen. Dazu sind wir bereit, immer in enger Abstimmung und auf Augenhöhe. Nicht zuletzt brauchen wir ein gesundes Maß an Realismus, ein umsichtiges Abwägen von Werten, Interessen und Möglichkeiten. Und eine Ausrichtung an dem, was machbar ist oder eben auch nicht.

Unsere Geschichte mahnt uns, für die Werte einzutreten, die unser Land seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und mit der späteren Überwindung der europäischen Teilung geformt haben. Werte wie Frieden, Freiheit und Demokratie, von denen wir in den letzten 30 Jahren dachten, dass sie keiner existenziellen Bedrohung mehr unterliegen. Sie bilden das Fundament unserer Staatlichkeit. Sie sind keinesfalls selbstverständlich. Gerade mit der Rückkehr des Krieges in die Mitte Europas, in dem unterschiedliche politische Systeme wie Autokratie und Demokratie aufeinanderprallen, ist es unsere Pflicht, diese Werte jeden Tag aufs Neue zu verteidigen. Das ist unser aller Pflicht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.