Theresa Brüheim: Herr Al Ghusain, welche kulturpolitischen Themen stehen bei Ihnen in Essen aktuell oben auf der Agenda?

Muchtar Al Ghusain: Ich möchte vorausschicken, dass ich mich bewusst als Dezernent für Jugend, Bildung und Kultur verstehe. Das ist in dieser Konstellation in den Großstädten über 500.000 Einwohnern nicht nur einmalig, sondern auch eine programmatische Aufgabe, gerade in einer Ruhrgebietsstadt. Wir betrachten Kultur immer auch im Zusammenhang mit den jungen Menschen in dieser Stadt, im Kontext von Schule und Jugendhilfe.

Wir müssen den Ganztag an den Schulen viel stärker mit der kulturellen Bildung verbinden.

Kulturpolitik lässt sich von baulichen Fragen nicht trennen. Wir haben erst kürzlich eine neue Stadtteilbibliothek als sogenannten Dritten Ort eröffnet. Wohnzimmerqualität, Aktionsflächen, insgesamt eine starke Einladungsgeste kennzeichnen diese neuen Bibliothekskonzepte. Dies ist ein guter Auftakt für unsere künftige Zentralbibliothek im Herzen der Stadt, die wir auch in dieser Form umsetzen wollen, und für weitere Stadtteilbibliotheken, die in den nächsten Jahren folgen werden.

Auch die Eröffnung einer neuen Studiobühne ADA, nach Ada Lovelace, in unserem Schauspielhaus im Grillo-Theater ist mehr als eine Sanierungsmaßnahme. Unser Theater wird sich in den kommenden Jahren sehr deutlich öffnen und die Stadtgesellschaft stärker einbinden. Da ist die ADA ein guter neuer Begegnungsort. Schulen und andere bislang wenig repräsentierte Gruppen unserer Gesellschaft werden auch hier künftig gehört und bekommen eine eigene Stimme.

Was unterscheidet die Essener Kulturszene von anderen in Deutschland?

Ruhrgebietstadt zu sein bedeutet, die große Bandbreite zwischen kultureller und künstlerischer Exzellenz auf der einen Seite und die sozialen Herausforderungen mit hoher Arbeitslosigkeit, Armut und unvermindert großer Zuwanderung auf der anderen Seite auszuhalten und zugleich Instrumente zu entwickeln, diese Spaltung zu überwinden. Als Kulturdezernent bin ich regelmäßig in den großen Kulturinstitutionen unterwegs wie Museum Folkwang, Aalto-Musiktheater, Philharmonie, Grillo-Theater, Zeche Zollverein. Und als Jugend- und Bildungsdezernent komme ich eben auch in alle Stadtteile und Quartiere und sehe, welche Herausforderungen es gibt: Durchschnittlich 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen beziehen Sozialleistungen. Durchschnitt heißt aber auch, dass es Stadtteile gibt, in denen die Werte auf 80 Prozent oder darüber ansteigen. In einer Stadt wie in Essen muss man realisieren, dass die Herausforderungen für die Gesellschaft extrem groß sind. Das haben die Menschen sehr gut verstanden, und so gibt es hier auch ein herausragendes soziales Engagement. Und dennoch muss man noch mehr tun, weil die Herausforderungen schneller wachsen, als wir Verbesserungen erzielen. Hier ist auch die Kulturpolitik gefordert, denn mit Kunst und Kultur können Menschen, besonders Kinder und Jugendliche, auf einer unmittelbaren, persönlichen und positiv-emotionalen Weise angesprochen und beteiligt werden.

Welche Rolle spielt bei den von Ihnen genannten Gegebenheiten in Essen die Stadtteilkultur? Und wie ist diese in Essen aufgestellt?

Stadtteilkultur ist eine sehr wichtige Aufgabe, die auch Jahrzehnte nach ihrer »Entdeckung« noch unterentwickelt ist und die ich explizit in meiner Arbeit noch mehr herausstellen möchte. Wir sind gerade in einem sehr spannenden Prozess: Wir wollen uns als Folkwang-Stadt neu positionieren. Der Name Folkwang ist bekanntermaßen mit der Stadt Essen verbunden. Der Gründer der Folkwang-Idee, Karl Ernst Osthaus, hat vor über 100 Jahren diese Vokabel aus der nordischen Mythologie hervorgeholt und damit eine sehr frühe Formulierung für ein »Kultur für alle«-Konzept gefunden. Diese Formulierung zielte darauf, den Menschen durch Bildungsangebote Kunst und Kultur zu vermitteln. Nach meiner Vorstellung müssen wir das insbesondere noch stärker in den Stadtteilen tun, denn die Menschen unserer Gesellschaft, die zu den marginalisierten gehören, finden nur schwer oder gar nicht den Weg in die Kulturinstitutionen unserer Innenstädte. So wichtig unsere oftmals ikonenhaften Gebäude auch sind. Gerade Stadtteilkultur kann ein wesentlicher Schlüssel sein, den Menschen diesen Zusammenhalt, den wir immer betonen, zu vermitteln. Viele Menschen haben weder diesen Aktionsradius noch die Mobilität, weil sie den Bildungshintergrund oder die finanziellen Möglichkeiten nicht haben. Sie bewegen sich mehr oder weniger ausschließlich in ihrem Quartier. Wenn es uns nicht gelingt, dort mit unseren Möglichkeiten präsent zu sein, dann erreichen wir sie gar nicht. Als Jugend- und Bildungsdezernent möchte ich auch die Schul- und Kita-Infrastruktur kulturell nutzen. Unsere Schulneubauten, die wir planen, sollen auch Begegnungsorte für den Stadtteil sein, sie können eine Stadtteilbibliothek, ein Jugendbegegnungszentrum oder auch einen Treff für Bürgerinnen und Bürger erhalten. Ich nenne aber in diesem Zusammenhang auch gern die Zeche Carl – ein frühes soziokulturelles Zentrum in Deutschland mit mittlerweile 45 Jahren Geschichte, das in Altenessen entstanden ist. Zuvor war die Zeche Carl ein frühes Beispiel der Industrialisierung im Ruhrgebiet. Hier soll neben dem Kulturzentrum eine neue Stadtteilbibliothek etabliert werden. Die zuletzt neu gegründete Junior-Universität wird hier dauerhaft unterkommen, daneben wird auch das Jugendamt künftig vertreten sein und auch das Maschinenhaus, das heute schon als Ort der Freien Szene Heimat für das Theater der kommenden Generation, das »physical theatre«, das Frauen-Jazzfestival »Peng« und viele andere ist, wird dort gestärkt. Dort entwickeln wir gerade unter Beteiligung der Akteure auf dem Campus eine Neukonzeption zur Aufwertung dieses Stadtteils mit den Möglichkeiten der Kultur und Bildung.

Essen steht unter anderem mit dem UNESCO-Welterbe Zeche Zollverein vor allen Dingen auch für Industriekultur. Wie fördern Sie konkret Industriekultur in Essen? Welche Schwerpunkte setzen Sie dabei?

Mit Industriekultur verbinden wir vor allem das Erinnern an die Geschichte der Industrialisierung. Die Musealisierung durch den Welterbestatus hat in den Anfangsjahren auch viel Unverständnis ausgelöst. Heute schätzen wir die Gebäude, auch wenn sie unterKlimagesichtspunkten problematisch sind, wir deuten sie um und nutzen sie für Kultur- und Bildungsaufgaben. Von der Kita bis zum Museum gibt es viele Nachnutzungen. Wir haben ein sehr frühes Zeugnis der Industriegeschichte im Süden der Stadt am Deilbachhammer. Das ist die Wiege des Bergbaus und stammt aus dem 16. Jahrhundert. Im Rahmen der Planungen für die Zeche Carl wird dort künftig auch der Malakow-Turm, der den Förderturm, den Schacht und entsprechende Anlagen enthält, saniert und nutzbar gemacht. Das Ruhr-Museum ist neben dem Red Dot Design Museum vielleicht das wichtigste Kompetenzzentrum auf Zollverein, um die Industriekultur zu fördern. Die Route der Industriekultur spannt heute ein Netz über das Ruhrgebiet und macht die Region zu einem immer noch spannenden und immer wieder auch überraschenden Raum, der viele neue Ideen verträgt und oft auch initiiert.

Essen ist für seine starke Fotoszene bundesweit bekannt. Dennoch kommt das Bundesinstitut für Fotografie nicht nach Essen. Welche Wunden hat der Streit hinterlassen?

Diese Debatte war nicht hilfreich. Sie ist aber nicht durch die Stadt Essen angestoßen worden, sondern durch eine aus unserer Sicht wenig glückliche Entscheidung im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, an der die Kulturpolitik gar nicht beteiligt war. Trotzdem: Essen ist und bleibt eine zentral wichtige Fotostadt. Wir haben große Bestände und große Kompetenzen im Museum Folkwang, in der Folkwang Universität, im Krupp Archiv, im Ruhr Museum. Dieser Verbund bleibt bestehen. Insofern kann man zwar bedauern, wie diese Diskussion gelaufen ist, aber es hat allen deutlich gemacht: Ja, Essen ist eine der wichtigen Fotostädte in dieser Republik. An diesem Profil werden wir auch künftig weiterarbeiten. Und ich behaupte: Am Ende werden Essen und Düsseldorf kollegial zusammenarbeiten.

Sie sind seit mehr als fünf Jahren im Amt. Was konnten Sie in dieser Zeit für die Kultur in Essen erfolgreich umsetzen?

Wir konnten nicht nur für die Kultur, sondern auch für die Bereiche Jugend und Bildung etwas umsetzen. Man muss diese Themen verbunden sehen. Im Kulturbereich haben wir wichtige Signale gesetzt. Das Bibliothekskonzept ist zentral wichtig, da es geeignet ist, die Kultur in die Stadtteile zu tragen. Mit der ersten neuen Stadtteil- und der künftigen Zentralbibliothek setzen wir starke Zeichen, und wir sind in Planungsprozessen für weitere Bibliotheken in den Stadtteilen.

Essen ist übrigens auch Tanzstadt. Der Deutsche Tanzpreis wird in diesem Jahr zum 40. Mal in Essen vergeben. Wichtige Größen des Tanzes sind hier ausgebildet worden und haben in Essen gearbeitet. Pina Bausch steht natürlich an der Spitze, aber auch Kurt Jooss hat schon vor knapp 100 Jahren die Weichen für den modernen zeitgenössischen Tanz gestellt. Tanz ist und bleibt mit Essen stark verbunden. Wir vernetzen uns neu mit den Akteuren der Tanzszene – in den Jahren 2027/28 wird der moderne Tanz in Essen 100 Jahre feiern können. Dafür gehen wir schon jetzt in die Vorbereitungen.

Unsere Stadt war auch bereits in den 1920er Jahren ganz wichtig in der Kinogeschichte. Noch heute haben wir mit der Lichtburg das größte Kino Deutschlands mit 1.300 Plätzen. Wir haben auch noch Programmkinos, die den Charme früherer Zeiten in sich tragen. Kinopremieren deutscher Filme werden auch heute noch gerne in Essen gezeigt.

Außerdem konnten wir das Thema kulturelle Bildung in den politischen Gremien stark platzieren und werden es noch stärker zusammendenken. Wir entwickeln das Thema in Essen im Zusammenschluss aller Akteure aus den Bereichen Jugend, Bildung und Kultur. Das ist eigentlich selbstverständlich, aber jeden Tag wieder eine neue Herausforderung. Hier brauchen wir noch stärkere Unterstützung durch das Land, denn schulische Bildung ist immer noch hoheitliche Aufgabe der Länder. Wir müssen endlich die Phase der Kurzzeitprojekte überwinden und zu dauerhaften Strukturen kommen. Sonst bleibt kulturelle Bildung nur ein Versprechen und mündet in prekärer Bezahlung, Exklusion und Erschöpfung.

Wir haben die sogenannte »Folkwang-Dekade« ausgerufen. Wir sind mit vielen Ideen und Initiativen auf dem Weg, dieses Profil der Folkwang-Stadt weiter zu schärfen und über diese Formel Teilhabe und Zusammenhalt zur zentralen kulturpolitischen Agenda zu machen.

Wichtig ist mir auch, den Dialog mit der Kulturszene neu zu beleben – wir haben unseren Kulturbeirat neu aufgestellt, und wir wollen verstärkt auch denen eine Stimme geben, die bislang nicht repräsentiert waren. Die öffentliche Kulturförderung darf nicht nur den Profis des Antragswesens zur Verfügung stehen, wir müssen auch andere Gruppen ermächtigen und sie an unseren Förderstrukturen teilhaben lassen. Das ist nicht einfach, aber überfällig. Wir sind eine diverse Gesellschaft und werden es in den nächsten Jahren immer mehr. Hier konnten wir Weichen stellen und öffnen die Kulturförderung, indem wir sie unbürokratischer machen wollen, auch für diese Zielgruppen. Ich freue mich ebenso sehr, dass es in den letzten Jahren gelungen ist, mehr Frauen in Führungspositionen zu bekommen, insbesondere bei den Stellennachbesetzungen, die wir hatten. Dazu zählen: Anja Flicker, Direktorin der Stadtbibliothek; Claudia Kauertz, die Leiterin des Stadtarchivs und des Hauses der Essener Geschichte; Anja Herzberg, Leiterin des Kulturamtes; Diana Matut, die in Kürze die Institutsleitung der Alten Synagoge antreten wird. Und wir haben einen Erneuerungsprozess bei unserem Theater und der Philharmonie Essen in Gang gesetzt: zunächst durch die Neubesetzungen in den Sparten mit 50 Prozent weiblicher Besetzung mit Merle Fahrholz für Oper und Philharmoniker, Selen Kara und Christina Zintl für das Schauspiel sowie Babette Nierenz für die Philharmonie. Aber auch konzeptionell wird sich das Stadttheater verändern: Die Öffnung für die Stadtgesellschaft soll sichtbar und die Einladungsgeste deutlicher ausgesprochen werden.

Zum Abschluss: Was ist Ihr liebster Kulturort in Essen? Welchen Kulturtipp haben Sie für unsere Leserinnen und Leser?

Die großen und bekannten Kulturorte muss ich nicht betonen. Das sind auch meine Lieblingsorte. Aber ich möchte einen Fokus auf das Katakomben-Theater lenken. Das ist ein Kulturzentrum von und für migrantische und andere Zielgruppen, und auch das Forum Billebrinkhöhe möchte ich erwähnen. Ein Ort, an dem Menschen mit und ohne Behinderungen Kultur gestalten und erleben können. Diese Orte berühren das Herz, stärken unsere Empathie und schenken uns neue Kunsterlebnisse.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.