Seit April 2023 ist der Musikmanager Joe Chialo Berliner Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Theresa Brüheim spricht mit ihm über seine Agenda 2024 und kulturpolitische Arbeitsschwerpunkte.

Theresa Brüheim: Herr Chialo, welche kulturpolitischen Themen stehen in Berlin hoch oben auf der Agenda für 2024?

Joe Chialo: Wir haben, erstens, zwei bedeutende Ereignisse in der Stadt zu feiern, die jeweils auf ihre ganz eigene Art für Miteinander und Gemeinschaft stehen. Wir werden die Fußballeuropameisterschaft mit kulturellen Angeboten rahmen, und wir feiern den 35. Jahrestag des Mauerfalls – für Berlin ein symbolhafter Tag. Außerdem hoffe ich sehr, dass wir, zweitens, 2024 alle Weichen für den Umzug der Zentral- und Landesbibliothek in das Quartier 207 in der Friedrichstraße stellen werden. Damit würden wir eine Jahrhundertchance ergreifen und der Stadt in naher Zukunft die Aussicht auf ein neues »Wohnzimmer« geben, was einfach großartig wäre. Und letztlich, drittens, hat uns Corona gezeigt, wie verletzlich die Kultur ist, wie schlecht wir in manchen Bereichen aufgestellt sind. Mit dem Haushalt, der hoffentlich im Dezember vom Parlament beschlossen wird, haben wir für 2024 und 2025 alles mobilisiert, um unsere Einrichtungen resilienter zu machen, die Digitalisierung voranzutreiben und uns bei wichtigen Themen besser aufzustellen.

Was unterscheidet die Berliner Kulturszene von anderen in Deutschland? Wie ist sie nach der Coronapandemie und in der Energiekrise aufgestellt?

Wer nach Gründen für die außergewöhnliche Kulturszene der Hauptstadt und ihren weltweiten Ruf sucht, wird in der Geschichte fündig: Ausgerechnet die Teilung der Stadt über Jahrzehnte hat diesen Boden bereitet – und dann natürlich der Fall der Mauer. In Berlin-Ost gab es die mutige und kreative Künstlerszene der DDR, viele zog es aus dem ganzen Land in den wilden Prenzlauer Berg. Berlin-West war, ohne Wehrpflicht, der Sehnsuchtsort für viele Aussteiger, Kreative, Musiker … Und als die Mauer fiel, die DDR implodierte, kurzzeitig keine Regeln galten, so etwas wie fröhliche Anarchie herrschte, war dies ein Schmelztiegel, in dem für jede und jeden alles möglich war: der Siegeszug des Techno ebenso wie eine wilde Galerieszene, ein Austoben und Ausprobieren. Das alles auch noch relativ preiswert. Dieser Nimbus trägt die Stadt noch heute, macht ihn nach wie vor zum Magneten für Kreative aus aller Welt. Heute vielleicht etwas »erwachsener«.

Die Krisen bzw. deren Häufung verschont natürlich die Kultur in der Hauptstadt nicht. Es ist ja so: Krisen kommen zuerst bei der Kultur an. Bei Corona waren es die Schließungen, vielen Künstlern brachen die Einnahmen weg. Im Ukrainekrieg waren und sind es die Preissteigerungen im Allgemeinen, bei Energie im Besonderen. Sie trafen und treffen erneut Kultureinrichtungen und Künstler. Kultur wird in Krisen immer zuerst und hart getroffen. Sie hat zum Teil erfahren müssen, welchen Stellenwert sie hat: Nice-to-have, aber nicht wirklich »systemrelevant«. Dementsprechend waren zunächst die Hilfen. Diese Zuschreibung stimmt aber nicht: Kultur ist essenziell für die Verständigung unserer Gesellschaft, Kultur ist der Kitt, der sie zusammenhält, Kultur erlaubt uns Austausch, Miteinander, Zusammenhalt … Unser Ziel muss daher sein, sie widerstandsfähiger zu machen, sie digitaler und insgesamt besser aufzustellen – und dafür leiste ich meinen Beitrag!

Was konnten Sie als Verantwortlicher für Kultur in Berlin bisher erfolgreich umsetzen?

Ich bin jetzt etwa 200 Tage im Amt, eine Schonfrist gab es nicht – nicht einmal für die ersten 100 Tage. Denn wir sind gleich mit den Verhandlungen zum Haushalt gestartet, in einer Situation, die für die ganze Gesellschaft wie die Kulturszene als extrem angespannt bezeichnet werden darf. Die Aufgaben und Anforderungen wachsen, das zur Verfügung stehende Geld leider nicht. Insofern verbuche ich es durchaus als Erfolg, dass wir einen neuen Rekordhaushalt für die Kultur aufgestellt haben, 2025 sogar erstmals über eine Milliarde Euro. So können wir meine wichtigsten Anliegen angehen: Kultur resilienter, krisenfester machen, soziale Härten durch finanzierte Tarifsteigerungen und gestiegene Honorare abfedern und Kulturangebote in der ganzen Stadt ausbauen, kulturelle Brücken von der Mitte zum Stadtrand schlagen. Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Senatsverwaltung gilt mein großer Dank, sie haben wahnsinnig viel geleistet. Darüber hinaus bin ich froh, dass wir beim Erhalt der Uferhallen wie bei der Sicherung der Ku’dammbühnen aktiv mitgespielt haben – und erfolgreich waren. Ähnlich verfahren wir mit der für Berlin essenziell wichtigen Clubkultur, deren bedrohte Standorte wir dringend sichern müssen, wie aktuell den Sage Club und die angrenzende Remise. Und natürlich das Thema Zentral- und Landesbibliothek, wo wir eine echte Chance haben, der ganzen Stadt zu einem neuen Glanzlicht zu verhelfen.

Wo gilt es noch, »dicke Bretter« zu bohren?

Baustellen gibt es viele, und dementsprechend gibt es eine Menge »dicker Bretter«. Manches davon lässt sich sicher in einem überschaubaren Zeitraum lösen, wie Lösungen bei Bauvorhaben oder wenn es hier und da bei Mietverträgen hakt. Aber es gibt eben auch Dinge und Projekte, die naturgemäß länger dauern, etwa beim Investitionsstau in den Einrichtungen, auf dem Feld der Erinnerungskultur und Demokratieförderung, wo wir neue Schwerpunkte setzen und Formate etablieren werden. Hier »bohren« wir konsequent und fortgesetzt, aber reden erst öffentlich darüber, wenn der Durchbruch da ist.

Sie haben es schon erwähnt: Die Clubkultur gehört zu Berlin. Welche Rolle spielt diese konkret in Ihrer Kulturarbeit?

Clubs und die Clubkultur gehören zur DNA der Stadt – egal ob international bekannte Flaggschiffe wie das Berghain oder kleinere wie das about:blank. Clubs sind heute weit mehr als Musikabspielstationen, sie sind Orte, an denen kulturelle Programme kuratiert werden, Diskussionen stattfinden, und nicht zuletzt sind sie oft Safespaces für marginalisierte Gruppen … Kurz: Clubs sind Kulturstätten! Und ich setze mich dafür ein, dass sie auch als solche gesehen werden, z. B. die Baunutzungsverordnung entsprechend angepasst wird – besonders um in Sachen Lärmschutz mehr möglich zu machen. Wir haben den Tag der Clubkultur beispielsweise, wo Clubs auch materiell ausgezeichnet werden, es gibt den Lärmschutzfonds, der Nutzungskonflikte abwenden soll, die Finanzierung einer Awareness Akademie und, und, und …

Für die Zentral- und Landesbibliothek wird seit Jahren ein neuer Standort gesucht. Sie treiben den Vorschlag, die ZLB ins Gebäude der Galeries Lafayette umzusiedeln, voran – und haben dies auch als Priorität für Ihre Agenda 2024 genannt. Was spricht außer der zentralen Lage dafür? Wie ist der Ist-Stand?

Berlin bekommt es seit über 100 Jahren nicht hin, sich eine Zentral- und Landesbibliothek zu geben. Die Chance, die sich jetzt mit einem Einzug ins Quartier 207 bietet, ist eine wirkliche Jahrhundertchance. Die zentrale Lage umringt von Einrichtungen der Bildung, von Kunst und Kultur ist nur ein Pluspunkt. Der Ort ist perfekt angebunden an den ÖPNV, die Umnutzung des Kaufhausgebäudes wäre kostengünstiger als der geplante, aber bereits um Jahre verzögerte Neubau neben der Amerika-Gedenkbibliothek. Es wäre nachhaltiger, ein Bestandsgebäude zu nutzen, als neu zu bauen – und: Wenn alles klappt, wäre der Einzug bereits 2026, mehr als zehn Jahre früher als beim Neubau.

Welche Rolle spielt Stadtteilkultur in Berlin? Wie fördern Sie diese?

Die Kraft wohnortnaher Kulturangebote wird unterschätzt, denke ich. Sie sind oft die ersten und niedrigschwelligen Angebote, mit denen Menschen in Berührung kommen, möglichst früh in Berührung kommen sollten. Sie sind daher extrem wichtig, auch für das Erlernen von Kulturtechniken, also der Möglichkeit, sich kulturell auszudrücken, mitzuteilen und in den Austausch mit anderen zu gehen. Ich bin kein Freund von kulturellen Leuchttürmen allein in der Mitte der Stadt – wir müssen die ganze Stadt mitnehmen, quasi Innen- und Außenbezirke miteinander verheiraten. Das heißt aber auch, in der ganzen Stadt Angebote zu sichern. Kunst und Kultur sind ein Netz, das sich von der Mitte bis in die Außenbezirke erstreckt. Wir fördern die bezirkliche Kulturarbeit, und da passiert in den Bezirken Großartiges. Wir haben die Jugendkunstschulen, die Musikschulen mit ihren Angeboten. Nicht zu vergessen die Bibliotheken in den Stadtteilen, alles kleine »Wohnzimmer« der Stadtgesellschaft zum Lesen, Lernen und Freundetreffen. Wir haben tolle Bezirksmuseen, die ganz engagiert arbeiten. Sie sehen: Wir haben den Wert erkannt und fördern und unterstützen.

Sie sind auch Senator für Gesellschaftlichen Zusammenhalt in Berlin. Wie ist es um diesen aktuell in der Hauptstadt bestellt? Welche Rolle spielt Kultur für die Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts? Was planen Sie konkret?

Laut SKL-Glücksatlas sind die Berliner jetzt nicht die glücklichsten Menschen, und auch der »fehlende Zusammenhalt« wird von ihnen kritisiert. Das ist im Kleinen wie im Großen ein Auftrag an uns. Zum einen geht es um die Wertschätzung des Ehrenamtes. Um die vielen Kiezinitiativen und Menschen, die sich um gute Nachbarschaft und das Zusammenleben unmittelbar vor Ort kümmern. Für diese gibt es am 2. Dezember die Würdigung »Berlin sagt Danke!«. Im Großen liegt der Schwerpunkt darauf, wie wir als Gesellschaft miteinander umgehen, wie wir Dinge aushandeln und unsere Zukunft mit allen für alle gestalten. Hier wären der Demokratie-Tag und die Demokratie-Konferenz zu nennen, die wir ausrichten.

Wahr ist leider auch, dass in einer Stadt, in der Menschen aus allen Ländern der Erde zusammenleben, auch die Konflikte der Welt widerhallen. Hier haben wir eine klare Verantwortung gegenüber allen Bürgern: weltoffen und für ein friedliches Miteinander! Bilder, wie es sie nach den barbarischen Taten der Hamas in Israel auf unseren Straßen gab, darf es hier nie wieder geben. Dass Menschen in dieser Stadt in Angst leben – das darf es nie wieder geben. Hier helfen Vermittlungsangebote, und hier hilft die Kultur! Gemeinsames Erleben von Kultur wie bei unseren Kultursommerangeboten fördert den Austausch, stärkt das Gefühl des Zusammengehörens und kann Verständnis schaffen über alle Grenzen hinweg.

 

Was ist Ihr liebster (Kultur-)Ort in Berlin? Haben Sie einen Kulturtipp für unsere Leserschaft?

Bei der kaum fassbaren Fülle an großartigen Kulturorten und kulturellen Angeboten ist es schwer, einen Ort zu benennen: Aber bei drei Opern, dem Konzerthaus, dem Berliner Ensemble, dem Friedrichstadtpalast, den Sophiensælen und, und, und findet sich sicher für jeden etwas. Nachdrücklich in Erinnerung ist mir aber einer meiner ersten Termine im Amt: der Karneval der Kulturen zu Pfingsten. Hier erlebt man die bunte und kreative Vielfalt, die Energie und den Zusammenhalt, den Kultur schafft, am besten. Ich würde jedem empfehlen, dort mindestens zuzuschauen, wenn nicht gar sich zu beteiligen.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.