Da stand sie nun vor der Kirchentür und wusste nicht weiter. Aber damit hatte sie einfach nicht gerechnet. Mit ihrem Kunstseminar war sie aus einer ostdeutschen Stadt auf eine Exkursion in eine westdeutsche Stadt gefahren. Ein volles Programm an Besuchen und Besichtigungen hatte sie zusammengestellt. Über die Hälfte davon hatten sie schon absolviert. Nun aber standen sie vor dem Portal der alten, altehrwürdigen Kathedrale. Gerade hatte sie alle um sich versammelt und wollte die Führung beginnen, da sagten ihre Studierenden: »Nein, da gehen wir nicht rein.«

Erst meinte sie, falsch gehört zu haben, aber für ihre Gruppe schien die Sache entschieden zu sein: Nein, das sei eine Kirche, da würden sie sich jetzt weigern. Die Professorin verstand immer noch nicht. Natürlich wusste sie, dass die meisten dieser jungen Frauen und Männer aus ostdeutschen Familien kamen, die seit nun schon mehreren Generationen keine Berührung mit dem Christentum haben. Auch war ihr selbstverständlich bewusst, dass in Kunstkreisen die Religionsaversion zum guten Ton gehört. Und schließlich war ihr nicht entgangen, dass ein Großteil der Mitglieder dieser Studiengeneration deutlich »links« eingestellt ist und jede Art von Kirche unter »rechts« verbucht. (Nebenbei gefragt: Erinnert sich jemand an die noch vor wenigen Jahre gängige Klage, die »Jugend von heute« sei so schrecklich unpolitisch?)

Aber deshalb eine Kirchenbesichtigung verweigern? Was also tun? Befehle funktionieren heute nicht mehr so gut, aber man kann auch nicht immer nachgeben. Deshalb sagte die Professorin: »So kommen wir nicht weiter. Der Besuch dieser Kirche gehört einfach zum Programm unserer Exkursion.« Anschließend versicherte sie glaubhaft, dass niemand eine Zwangstaufe oder irgendeine andere Form religiöser Überwältigung zu befürchten habe. So gingen nach einigem Hin und Her doch alle in die Kathedrale hinein.

Und was geschah? Die Studierenden waren erstaunt, fasziniert, schauten sich alles genau an und hatten am Ende so viele Fragen, dass die Gruppe es nicht pünktlich wieder hinausschaffte. Das ganze Programm war durcheinandergeraten.

Seitdem die Kunstprofessorin mir diese Geschichte vor wenigen Tagen erzählt hat, geht sie munter in meinem Kopf spazieren. Dort trifft sie auf andere ähnliche Geschichten. Von dem Kollegen z. B., der in seiner in Ostdeutschland gelegenen Kirche ein Konzert veranstaltete und kurz vor Beginn eine der jugendlichen Helferinnen bat, doch schnell ein, zwei Dinge nach vorn zu bringen. Worauf die Jugendliche bloß zurückfragte: »Wo ist hier ›vorn‹?« In der Eile wollte er ihr zurufen: »Am Altar natürlich!« Aber dann hätte er ihr in Ruhe erklären müssen, was ein Altar ist, was er bedeutet und wo er steht. Dafür war keine Zeit mehr. Also lief er selbst los.

Beide Geschichten bezeichnen nicht nur ein Kirchenproblem, das es lediglich in Ostdeutschland zu bestaunen gäbe. Theater, Museum, Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen dürften diese spezielle Schwierigkeit ebenfalls kennen: Wir halten uns selbst für freundliche Türöffner, unterschätzen aber, welche sichtbaren und unsichtbaren Hürden viele Menschen davon abhalten, bei uns einzutreten. Bass erstaunt müssen wir erleben, dass unsere bemühte Willkommenskultur andere gar nicht erreicht. Was man da tun kann? Das weiß ich auch nicht. Andererseits habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

Manchmal hilft übrigens eines der letzten allgemein bedachten Rituale, die wir in Deutschland noch pflegen. Im Advent und zu Weihnachten machen die Kirchen ihre Türen besonders hoch und ihre Tore noch einmal extra weit. Hineingezwungen wird niemand, gewaltsame Bekehrungen sind nicht zu befürchten. Man kann einfach kommen – mit seinem vollen oder leeren Herzen, seinem Glauben oder all den Zweifeln. Man kann zuhören oder sich eigene Gedanken machen. Man sollte versuchen mitzusingen, muss es aber nicht. Und wer weiß, vielleicht bleibt man dann doch einen Moment länger sitzen, als man es ursprünglich geplant hatte.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.