In seiner viel gerühmten Geschichte Königsbergs hat der Schriftsteller Jürgen Manthey auf eine Bemerkung Hannah Arendts aufmerksam gemacht, die diese 1964 am Rande ihrer Deutschlandreise fallen ließ. »In meiner Art zu denken und zu urteilen«, soll sich die jüdische Philosophin geäußert haben, »komme ich immer noch aus Königsberg.« Diese Randnotiz, erinnert mich an ein langes Gespräch mit dem Historiker George Mosse kurz vor seinem Tod, in dem er mir von seiner Hoffnung erzählte, dass das damals im Entstehen begriffene Jüdische Museum in Berlin ein Ort werden könne, an dem sich die über die Welt verstreuten Spolien der jüdischen Familien aus Deutschland wieder versammeln. Ein Museum als Heimat der Toten.

Auch eine dritte Geschichte geht mir dieser Tage nicht aus dem Kopf, die des Berliner Gymnasialprofessors Otto Morgenstern, der Generationen von Schülern am alten Lichterfelder Schillergymnasium im humanistischen Geist erzogen hatte und nach der Machtübernahme der Nazis sein Pensionärsdasein als Straßenkehrer fristen musste. »Kinder, warum gehöre ich nicht mehr zu eurem Volk?«, soll er seine ehemaligen Gymnasiasten gefragt haben. Die Anständigeren unter ihnen schlichen sich nachts durch den Kellereingang in sein Haus, um dem alten Lehrer wenigstens das Lebensnotwendigste zu bringen. Dann kam Theresienstadt. Und dann der Tod.

Es wird in diesen Tagen viel von der Solidarität mit Israel geredet, von deutscher Staatsräson und staatsbürgerlicher Verantwortung. Es wäre unfair, die ehrlichen Motive dahinter zu bezweifeln. Das politische Deutschland kommt durchaus seiner Verpflichtung nach. Trotzdem werden auf deutschen Straßen wieder Parolen skandiert, die niemand jemals wieder für möglich gehalten hätte. Die vielen Gedenktage, die Mahnmale und Erinnerungsbemühungen – hat das etwas geholfen, fragt sich der Schweizer Literaturkritiker Roman Bucheli. Sein bitteres Fazit lautet: »Nein, es hat alles nichts genützt.«

Man kann, wie jüngst Michel Friedmann, versuchen, das mit einer weitverbreiteten Gleichgültigkeit und Unwissenheit zu erklären. Vieles davon wurde auch unbesehen aus der islamistischen Welt importiert, während unsere demokratische Kultur gefestigt erscheint. Doch die Gleichgültigkeit lässt sich eben nicht übersehen, die kühle Distanz, die in der deutschen Öffentlichkeit herrscht. Die zentrale Solidaritätskundgebung für Israel vor dem Brandenburger Tor war eine Demonstration der Bemühten und der Besorgten. Ein endloses Fahnenmeer gab es dort nicht.

Israel, unsere vermeintliche Staatsräson, scheint für viele unserer Mitbürger sehr fern zu sein. Längst beginnen die neuen postkolonialen Narrative die alten Erzählungen zu überlagern. »Free Palestine from German Guilt« skandierten jüngst einige Hundert zumeist jugendliche Demonstranten vor dem Auswärtigen Amt in Berlin. Und die taz kommentiert bitter, dass »die Annikas, Thorbens, Sophies und Finns«, die da weitgehend ahnungslos herumkrakeelten, sich durchaus in schlechter Gesellschaft von linken Intellektuellen wie Slavoj Žižek befänden.

Was sich in diesen Tagen offenbart, ist eine erschreckende Beziehungslosigkeit nicht nur zu Israel, sondern zu jüdischem Leben überhaupt, man könnte von Fremdheit reden. »Meet a Jew« heißt deshalb ein Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, das auf tragische Weise fast schon komisch erscheint. Wir feiern zwar 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, aber wir haben so wenig Ahnung davon, dass es sogar eigener Beziehungsanbahnungskurse bedarf. Der echte Jude zum Anfassen.

Unsere Vorstellung von jüdischem Leben in Deutschland drückt sich immer noch in Kategorien der Vergangenheit aus, in alten Steinen und separaten Räumen; im hilflosen Versuch, jüdisches Leben und jüdischen Glauben als separate Traditionslinien zu rekonstruieren, die mit unserem heutigen Leben noch immer nichts zu tun haben. Othering nennen das die Ethnologen und meinen damit die Konstruktion eines kulturell anderen. Die Gemeinsamkeiten beschränken sich dann auf Klezmerkonzerte oder Kochen mit Yotam Ottolenghi.

Ich habe zu jener Zeit in Erfurt gelebt, als man in dem Teil der Altstadt, der zu DDR-Zeiten dem Abriss und Verfall preisgegeben war, die Überreste einer der ältesten und bedeutendsten Synagogen Mitteleuropas entdeckte, in einer Stadt, die ob ihres Kirchenbaureichtums damals als das nördliche Rom empfunden wurde. Es war zu Anfang keineswegs klar, auf welches grandiose, völlig vergessene Zeugnis man da gestoßen war. Inzwischen hat es die UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen, und die wiederentdeckte Mikwe, das jüdische Taufbad, gilt inzwischen als Symbol einer langen, untergegangenen Tradition, was sogar zu Versuchen geführt hat, den bronzenen Wolfram im Erfurter Dom als Aaron in den jüdischen Kontext einzuordnen.

Sammeln wir also lieber verwitterte Zeugnisse ein, oder wären wir endlich bereit anzuerkennen, dass jüdisches Leben Teil unserer Gegenwart ist. Und dass es an ein Wunder grenzt, wie aus dem namenlosen Heer der Entwurzelten und Entkommenen, die nach dem Krieg verzweifelt auf ihre Ausreisepapiere nach Palästina oder in die USA warteten, wieder jüdische Gemeinden in Deutschland werden konnten. Sie haben der bitteren Prophezeiung Leo Baecks auf unglaubliche Weise widersprochen, dass der Glaube an eine Vermählung des deutschen und des jüdischen Geistes eine Illusion war und »die Epoche der Juden in Deutschland ein für alle male (sic!) vorbei« sei.

Aber hat es den Versuch einer »Vermählung« jemals gegeben? Ich bin davon überzeugt, auch wenn man mir widersprechen wird. Man muss dabei gar nicht auf die großen Namen zurückgreifen, auf Lessing, auf Mendelssohn oder die großen Denker, die meine Generation prägten, wie Walter Benjamin oder Georg Simmel. Es gibt eine überwältigend reiche, weithin vergessene jüdisch-deutsche Geistesgeschichte, die den, der sich mit ihr beschäftigt, sprachlos macht. So wusste ich von Moritz Lazarus, der eigentlich Moses Lazarus hieß, nur, dass er der Erfinder der Völkerpsychologie war und als solcher vergessen. Dass er aber als Enkel eines bekannten Talmud-Gelehrten zu den eindringlichsten Stimmen des werdenden deutschen Nationalstaats zählte und mitten im preußischen Königreich die Idee einer liberalen modernen Gesellschaft entwarf, das wusste ich nicht.

Neulich bin ich wieder einmal in den Schwarzwald gefahren, wo ich einen Teil meiner Kindheit verbracht habe. Ich habe die feine Freiburger Ausstellung über den Maler Wilhelm Hasemann besucht, den eigentlichen Begründer der Schwarzwaldromantik. Wer sich aber mit dem Heimatmaler Hasemann beschäftigt, kommt an dem Heimatdichter Berthold Auerbach nicht vorbei. Seine Dorfgeschichten haben riesige Auflagen erlebt. Aber Auerbach, der eigentlich Moses Baruch Auerbacher hieß, war kein zwischen deutschen Fichten und Tannen verwurzelter Waldöhi, sondern Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Horb, der die erste jüdische Elementarschule im damaligen Königreich Württemberg besuchte. Rabbiner sollte er nach dem Vorbild des Großvaters werden und schrieb sich doch in die deutscheste Heimat ein.

Biografien wie die von Lazarus oder Auerbach stehen für ein liberales jüdisches Leben und Denken am Vorabend des Bismarck’schen Nationalstaats, das womöglich hätte gelingen können und doch am unversöhnlichen Judenhass scheiterte. »Vergebens gelebt und gearbeitet«, schrieb Auerbach 1880 an seinen Freund Jakob. Und doch, so schloss er seine letzte Rede über die »Genesis des Nathan«, wird »der Geist der Humanität siegen«. Ein reichlich halbes Jahrhundert später war jüdisches Leben in Deutschland erloschen.

Zu Beginn des Kriegsjahres 1942 erhält das Münchner Künstlerehepaar Alexander und Johanna Liebmann den »Befehl in das Judenlager Berg am Laim zu ziehen, von wo aus sie nach Osten deportiert werden sollten«. Liebmann hatte zuletzt noch ein Auskommen als Porzellanmaler in einer kleinen Sendlinger Keramikwerkstatt gefunden. Dessen Besitzer erinnerte sich später daran, wie Liebmann ihm unter Tränen seine Tapferkeitsorden aus dem Ersten Weltkrieg zeigte und ihn fragte, warum er plötzlich kein Deutscher mehr sei. Wenig später, am Morgen des Karfreitags, findet die Münchner Polizei das Ehepaar in seiner Wohnung tot auf dem Bett. Die Orden und die Familienpapiere lagen sorgsam daneben.

Warum reden wir von Staatsräson, wenn es um Anteilnahme geht? Warum nennen wir das Solidarität, was uns genauso betrifft? Es weht ein kühler Wind durch dieses Land, und wir stehen schon wieder daneben.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2023-1/2024.