Die Floskel ist die Falschmünze der Alltagssprache. Klein, unauffällig, schmuddelig geht sie von Hand zu Hand. Keiner achtet darauf, dass sie eigentlich ohne Wert ist, solange sie nur von anderen fraglos entgegengenommen wird. Doch irgendwann verliert sie ihre täuschende Farbe, und der Betrug ist entlarvt. Dann wird sie aus dem Verkehr gezogen und durch neue Täuschbegriffe ersetzt. So weit ist es bei einer zurzeit beliebten Floskel noch nicht. Sie geht ungestört-fröhlich von Mund zu Ohr zu Mund. Wer sie geprägt und in Umlauf gebracht hat, lässt sich nicht ermitteln. Man kann nur notieren, wer sie gebraucht, sich fragen, welchen Interessen das dient, und analysieren, worin das Täuschende an ihr besteht. Ich rede von den Zusammenstellungen von »DNA« und kulturellen Sachverhalten. Da ist die Wissenschaftsministerin, die erklärt, sie wolle die »DNA der Wissenschaftsfreiheit« verteidigen. Da ist der Museumsleiter, der beteuert, dass »Mehrdeutigkeit unsere DNA« sei. Es folgen ungezählte Personen aus Kulturpolitik und Kulturbetrieb, die ihre Arbeitsprogramme auf eine ominöse DNA zurückführen. Das färbt auf Nachbarbranchen ab. Jetzt sprechen auch Sportfunktionäre von »unserer Sieger-DNA«. Dieses DNA-Gerede dient Marketingzwecken. Positive Eigenschaften sollen als eigenes Identitätsmerkmal reklamiert werden. Das Gute daran: Man muss sich nicht mehr durch manifeste Erfolge rechtfertigen, sondern kann sich auf eine unsichtbare Qualität in tief verborgenen Zellkernen berufen. Man möchte dies dem neuen Trainer der Fußballnationalmannschaft empfehlen: lieber über die eigene Sieger-DNA als über die jüngste Niederlage sprechen.
Zugrunde liegt dieser Floskel ein inhaltliches Missverständnis. Man weiß ja, dass naturwissenschaftliche Kenntnisse bei Menschen im Kulturbetrieb oder in der Geisteswissenschaft nicht so verbreitet sind. Das liegt halt nicht in ihrer DNA. So meinen die Floskel-Freunde anscheinend, die DNA wäre ein inneres Programm, das mit Notwendigkeit immer gleich ablaufe, als wäre der Organismus ein Computer, dessen Software, einmal programmiert, immer dieselben Ergebnisse produziere. Dabei kann man sich von der neueren Biophysik darüber belehren lassen, dass in der DNA zwar ein Bauplan geliefert wird, dessen Umsetzung aber von vielen äußeren zufälligen Faktoren mitbestimmt wird. Weshalb es eine Täuschung ist, zu behaupten, man stehe für dieses Schöne oder jenes Gute, nur weil es angeblich in der eigenen DNA verankert sei. Um noch einmal sportlich zu werden: Die Wahrheit der eigenen Arbeit liegt nicht in einer irgendwie gearteten DNA, sondern »auf dem Platz«.
Noch problematischer wird es, wenn man anderen etwas Negatives in die DNA schreibt. Ich denke da an die Woke-Popsängerin, die den Patriarchalismus als »DNA der Bibel und des Christentums« bezeichnete – das Judentum hat sie dankenswerterweise nicht erwähnt, obwohl das konsequent gewesen wäre. Und ich denke an den Freund, der mir erklären wollte, dass der Antisemitismus in der »DNA des Christentums« liege. Ich finde, dass man sich mit der Ideologiekritik mehr Mühe geben und genauer argumentieren sollte. Sonst bleibt es bei pauschal-polemischen Abwertungen, die andere Menschen auf etwas Böses festlegen, ohne dass sie sich wehren könnten. Problematisch ist zudem der Determinismus dieses Geredes: Die anderen können sich nicht zum Besseren ändern, das Böse liegt ja in ihrer DNA. Dabei haben auch antisemitische Patriarchen eine moralische Wahlfreiheit, sonst könnte man sie für ihre Gesinnungen und Handlungen auch nicht zur Verantwortung ziehen.
Das, was einen im Inneren antreibt, was das eigene Denken und Tun bestimmt, lässt sich im Guten wie im Schlechten nicht auf pseudo-naturwissenschaftliche Weise als Programm beschreiben, das mit Notwendigkeit zu diesem oder jenem Resultat führt. Vielmehr spielen Traditionen, Prägungen, Umwelteinflüsse, zufällige Umstände und nicht zuletzt eigene Entscheidungen zusammen – die eigene Identität und die der anderen ist immer auch ein offenes Spiel. Deshalb sollte die DNA-Floskel aus dem Verkehr gezogen werden.