Zwei Bücher geben derzeit Aufschluss über den Stand der deutschen Einheit. Oder genauer gesagt: der politischen Debatte darüber. Beide Bücher sind ungewöhnlich erfolgreich und beide erschreckend banal: Dirk Oschmanns wütende Abrechnung mit den Westdeutschen nach der Wiedervereinigung genauso wie Katja Hoyers Weichzeichnung der untergegangenen SED-Diktatur. Wer es vergessen haben sollte, der kann es jetzt noch einmal nachlesen: »Die DDR bot ihren Bürgern Stabilität, relativen Wohlstand und soziale Mobilität. Sie war ein Arbeiterstaat, der sich um die Interessen der Arbeiter kümmerte«, heißt es in einer englischen Besprechung von Hoyers Buch, und man ist sich beim Rezensenten, dem Historiker Jacob Mikanowski, keineswegs sicher, ob er das nicht todernst gemeint hat. Was den mit der jüngsten deutschen Geschichte vertrauten Leser an das Bild jener »Nischengesellschaft« erinnert, mit der westdeutsche Beobachter seinerzeit den ostdeutschen Mauerstaat schönzeichnen wollten. Dort hingen die Strümpfe zum Trocknen eben am rostenden Stacheldraht.

Man staunt tatsächlich, was nach über drei Jahrzehnten der Einheit noch immer – oder schon wieder – an Vorstellungen über dieses jüngste Kapitel unserer Vergangenheit verbreitet wird. Und man merkt immer schmerzlicher, was es heißt, dass es an deutschen Hochschulen fast keine seriöse DDR-Forschung mehr gibt. Das Korrektiv fehlt, und das Thema wird häufig den Erregungskurven der öffentlichen Debatte überlassen. Das Bestreben der beiden Autoren hingegen ist unverkennbar. Die DDR-Jahre glänzen im sanften Licht des Erinnerungsoptimismus; und die Gegenwart seit der Wiedervereinigung wird mit schwärzesten Schatten gezeichnet.

Nach dieser Lesart hätte es 1989 gar keine friedliche Revolution gegeben, sondern nur den brutalen Abriss einer vertrauten Welt. Lässt sich Hoyers Buch noch als den Versuch erklären, der eigenen, sicher nicht systemfernen Familiengeschichte ein akademisches Mäntelchen umzuhängen, so erstaunt doch der Paukenschlag, mit dem Dirk Oschmann die Bühne betrat – ein ordentlicher deutscher Literaturprofessor aus Leipzig, geboren in Gotha. Er hat nach der Wende im vereinten Deutschland Karriere gemacht und beachtete Monografien über Kracauer, Schiller oder Kafka geschrieben.

Es gibt nicht viele vergleichbare Bücher, die einen solchen medialen Urknall ausgelöst haben wie sein Buch über den Osten als einer »westdeutschen Erfindung«. Das enorme Echo zeigt, wie zum Bersten voll die Empörungsblase gewesen sein muss, in die Oschmann jetzt mit voller Wucht hineingestochen hat. Ihr Inhalt spritzte durch die Gazetten. Man möchte ihn gar nicht abwischen wollen, denn das Buch und sein Erfolg verraten mehr über die Stimmungslage im Osten als die üblichen Studien. Und es ist verblüffend, auf wie viele Freunde und Bekannte man trifft, die Oschmann bereits gelesen haben und sich durch ihn bestätigt fühlen. Der lebenskluge Museumsmann Christoph Stölzl hat von den berühmten »Wandersagen« gesprochen, die man sich immer wieder von Neuem erzählt. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk urteilt da härter. Der Riss durch unser Land, schreibt er über die beiden Bücher, sei eben doch tiefer als gedacht. Und sein Rat heißt: Nicht hinzuschauen nütze nichts, aufzugeben aber genauso wenig.

Man hätte diesen Stimmungsumschlag in den neuen Ländern freilich kommen sehen können. Ein Blick über den deutschen Tellerrand hilft auch, das Problem besser zu verstehen. Denn fast jede traditionsbewusste Region in der jüngeren Geschichte der Nationalstaaten, die sich von ihren Metropolen abhängig und fremdbestimmt fühlte, hat ihre Spielart des kulturellen oder politischen Separatismus entwickelt. Als der amerikanische Soziologe Michael Hechter vor über einem halben Jahrhundert sein viel zitiertes Konzept von einem »Internal Colonialism« entwickelte, nahm er sich dafür die keltischen Ränder Großbritanniens zum Vorbild. Selbst die Waliser, die Sanftesten unter den Regionen des »Celtic Fringe«, hatten irgendwann keine Lust mehr, vor London zu buckeln. Bei uns hat sich das Wort von der verlängerten Werkbank eingeprägt.

Aber damit ist der dramatische Stimmungswandel in den neuen Ländern nur zum Teil erklärt. Offenbar brechen auch wieder uralte Vorurteile auf, die man nach den Verheerungen unserer jüngsten Geschichte gar nicht mehr für existent gehalten hätte. Der Osten galt immer schon als rückständig und prekär. Es ist womöglich kein Zufall, dass die FAZ in diesen Tagen wieder an den Rheinländer Konrad Adenauer erinnert, dessen Abneigung gegenüber dem preußischen Ostelbien geradezu sprichwörtlich war. Vom »Othering« Adenauers spricht die Autorin der Zeitung, womit sie eine der Kampfvokabeln aus dem Wörterbuch des Postkolonialismus benutzt.

Dass dieser Osten ein Fluch der deutschen Geschichte sei und die Einheit überhaupt ein tragischer Irrtum, hat schon der britische Historiker James Hawes behauptet. Er steht damit in einer obskuren Tradition. Aber man sollte auch nicht vergessen, wie panisch die westdeutsche Linke reagierte, als sie merkte, dass sich die Wiedervereinigung nicht mehr verhindern ließ.

Diese neue Einheit hatte von Anfang an eben ihre zwei Gesichter. Dasjenige einer beispiellosen nationalen Solidarität. Und das andere Gesicht geprägt von Misstrauen. Vom Fass ohne Boden sprach der Spiegel schon bald nach der Wiedervereinigung. Und es ließ sich nicht übersehen, dass dieser etwas altdeutsch anmutende Osten, der in mancher Hinsicht doch viel moderner schien, nicht so wirklich zu einer Bonner Republik passte, die in nationaler Hinsicht unmusikalisch geworden war.

Man muss die Anstrengung der gelernten DDR-Bürger bewundern, die eigene Erinnerung mit dem Wunsch zu verbinden, möglichst schnell ein normaler Westbürger zu werden. Das konnte nicht ohne Verluste geschehen. Jana Hensel hat im Gespräch mit Wolfgang Engler das unabwendbare Fremdwerden im eigenen Land sehr eindringlich geschildert und von der Einsamkeit gesprochen, die größer war als nur eine individuelle: »Es war eine gesellschaftliche Einsamkeit und ein Verlorensein, die allgegenwärtig waren und ihren Ausdruck vor allem in den leeren Landschaften abseits der größeren Städte fanden, in denen die Menschen oft wirklich die Rolle von Statisten spielen.« Das frühere Wir-Gefühl einer Mangelgemeinschaft war zerbrochen. Ein neues war nicht in Sicht.

Stattdessen hat sich in der vereinten Republik eine kollektive Experimentalordnung eingestellt. Die Ostdeutschen sind zu einer Art von Studienobjekten geworden, die ständig beobachtet und begutachtet werden und deren politisches Wohlverhalten man peinlich genau registriert. Dafür gibt es inzwischen ein Heer von Instituten, Forschungseinrichtungen, Stiftungen, Gutachtern, die permanent nachprüfen, wie viel Nazi noch im Ossi steckt, wie tief verwurzelt sein Hang zur Fremdenfeindlichkeit sei oder seine Affinität zu totalitären Strukturen.

Es wundert schon, dass in einer Zeit postkolonialer Herrschaftsdiskurse offenbar niemandem auffällt, was wir im eigenen Land betreiben. Es ist ein Zustand der wechselseitigen Verdächtigungen eingetreten. Der so dringend gebrauchte gemeinsame Diskurs ist verstummt. West und Ost haben sich in getrennten Erinnerungsgemeinschaften eingegraben. Die einen möbeln ihre Frankfurter Paulskirche wieder auf, die anderen bauen sich ihr Zukunftszentrum in Halle. Und über keines der weltbewegenden Themen lässt sich noch gefahrlos reden. Über Corona nicht, nicht über Migration oder gar dem russischen Überfall auf die Ukraine. Das Gespräch unter Freunden ist einsilbig geworden.

Diese Stimmungslage hat längst ihren Niederschlag im Wählerverhalten gefunden. Die Linke wird ausrangiert; von der Gunst der Stunde profitieren die Rechten. Denn für die AfD-Wähler in den neuen Ländern kehrt sich die gewohnte Rolle plötzlich um. Sie sind nicht mehr die belächelte Nachhut im Osten; sie sind der neue Protest, der Berlin irritiert.

Weil die AfD Dinge anspräche, die alle anderen Parteien umschiffen würden, erklärt der frühere Fraktionsvize der Union im Deutschen Bundestag, der Dresdner Arnold Vaatz, den Erfolg, habe sie sich den Respekt der Ostdeutschen verschafft. Die jüngsten Meinungsumfragen von Allensbach scheinen ihm recht zu geben. Nur ein Teil dieser Wähler hat offenbar eine manifest rechtsextreme Gesinnung. Für viele ist es probater Protest. Aber Vaatz, der die AfD vor allem wegen ihrer Haltung zu Russland nicht wählen würde, blendet dabei aus, welche Zerreißprobe dem Land mittlerweile droht. Denn ob nach den Wahlen im Osten die Brandmauern halten, da sind sich selbst Verfassungsrechtler nicht einig. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter Michael Hubel hat bereits an das Verfassungsgebot der Organtreue staatlicher Institutionen erinnert.

Wie will man aber diese zumindest in Teilen verfassungsfeindliche Partei aus allen Ämtern heraushalten, wenn sie für einen immer größeren Teil der Wähler spricht? Und wie soll ein subsidiäres und föderales Gemeinwesen noch funktionieren, wenn neue Mehrheiten im Osten womöglich dagegen sind? Allmählich dämmert uns allen, welche Gefahr sich da abzuzeichnen beginnt. Das Schlechtreden der Einheit hat auch da seinen Preis. Das kann man einem einzelnen Autor nicht anlasten. Oschmanns Buch ist nur ein schrilles Symptom. Aber in seiner maßlosen Wut und Empörung schürt er ein Feuer, an dem er sich womöglich selbst die Finger verbrennt. Die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen, sie hat sich aber mit der Verbitterung in den neuen Ländern verbündet. Das ist ihr gefährlicher Treibsatz geworden, und er trägt sie inzwischen fast überall hin.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2023.