Am 1. Mai des vergangenen Jahres notierte der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow in sein »Tagebuch einer Invasion«: »Ohne Wasser, ohne Luft und ohne Kultur kann der Mensch nicht leben. Kultur gibt einen Sinn im Leben. Und deshalb ist sie in Zeiten von Katastrophe und Kriegen besonders wichtig. Kultur wird zu etwas, dass man nicht so einfach aufgeben kann. Sie zeigt dem Menschen auf, wer er oder sie ist und wohin er oder sie gehört.«

Ein Jahr nach dem verbrecherischen Angriff Russlands auf die Ukraine sprach ich im Februar bei einer Veranstaltung der Münchner Sicherheitskonferenz mit Andrej Kurkow über die Bedeutung von Kultur in Zeiten von Krieg und Krise und was es bedeutet, eine Kultur der Demokratie gegen einen totalitären Aggressor wie Putin zu verteidigen.

Ein Abend, der sich mir tief eingegraben hat, wie schon das ganze Jahr zuvor, besonders auch mein Besuch in Odessa. Eine Stadt, die nun Weltkulturerbe ist und die mit ihren Bewohnerinnen und Bewohnern unentwegt russischem Bombenhagel ausgesetzt ist.

Liebe Mistreiterinnen und Mitstreiter für die Kultur in diesem Land: Es geht derzeit um sehr viel, in diesen nicht einfachen Zeiten. Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist eben auch ein direkter Angriff auf die Kultur der Demokratie, auf die Kultur in der Demokratie, den so wertvollen Freiheitsraum von Kunst und Kultur, der nicht einer gezielten Staatspropaganda unterworfen wird – wie wir das in Russland und beileibe nicht nur dort beobachten müssen.

Auch bei uns hier im Land wie auch in Europa gibt es leider immer mehr Demokratiefeinde – und Verächter des Rechtsstaats, die dem Freiraum der Kultur nach ihren Vorstellungen an den Kragen wollen, sie für ihre rückwärtsgewandten, reaktionären Ideologien instrumentalisieren wollen.

Sie, ich, wir alle hier sind gefordert, dem entgegenzutreten, die Kultur in der Demokratie und für die Demokratie zu verteidigen. Dafür werden Sie mich auch immer entschlossen an Ihrer Seite haben. Wir brauchen breite Bündnisse, um diesen Angriffen auf unsere Kultur etwas entgegenzusetzen.

Wir haben es derzeit aber gleich mit mehreren Krisen zu tun, die sich überlagern wie tektonische Platten – wie Sie alle wissen. Die Pandemiejahre haben die Kulturbranche schwer getroffen und tiefe Spuren hinterlassen – und die Pandemie ist nicht vorbei, wie wir in diesen Tagen leider wieder sehen müssen. Mit dem umfangreichen Hilfsprogramm NEUSTART KULTUR konnte auch dank der guten Zusammenarbeit mit Ihnen unsere so reichhaltige wie vielfältige Kulturlandschaft erhalten werden. Selbstverständlich evaluieren wir dieses NEUSTART KULTUR-Programm jetzt auch intensiv und beschäftigen uns mit den kritischen Anmerkungen des Bundesrechnungshofes dazu – aber, und das möchte ich hier ganz deutlich sagen, die Bedeutung und den Erfolg dieses Programms für den Erhalt unserer Kulturlandschaft sollten wir uns nicht zerreden lassen! Solche Programme gab es wirklich nur bei uns. Und wenn ich in Europa unterwegs bin, werde ich häufig darauf angesprochen. Ja, es ging manchen zu langsam, aber wir haben damit Existenzen sichern können.

Auf die Folgen des Krieges auch hier bei uns, wie etwa die Energiekrise, konnten wir mit meinem Haus mit einem milliardenschweren »Kulturfonds Energie« reagieren, der auch mit der Verpflichtung und Unterstützung für Energieeinsparung verbunden war.

Trotz einer sehr angespannten Haushaltslage ist es uns gelungen, den Haushalt 2024 für die Bundeskultur stabil zu halten. Damit sichern wir die kulturelle Infrastruktur, auch in schwierigen Zeiten.

Schließlich haben wir es drittens mit einer enorm zum Handeln verpflichtenden Klimakrise zu tun, die deutlich schneller voranschreitet als erwartet. Mit verheerenden Waldbränden, Überflutungen, Wärmerekorden in Meeren, abgeschmolzenen Gletschern und vielem mehr ist sie bereits sehr deutlich sichtbar und spürbar. Noch kann diese Klimakrise begrenzt werden – wenn die dafür notwendigen Maßnahmen zügig und konkret angegangen werden. Hier ist die Kulturbranche gefordert, den Weg hin zu einem klimaneutralen Umbau nicht nur mitzugehen, sondern aktiv mitzugestalten, ja möglichst sogar Vorreiter und Antreiber zu sein.

Mit der Gründung des Referates »Kultur und Nachhaltigkeit« in meinem Haus im April 2022 haben wir losgelegt. Seitdem wurde viel geplant, vernetzt und entwickelt. Wir haben »Green Culture«-Konferenzen organisiert und auch schon konkrete Maßnahmen umgesetzt. Am wichtigsten war sicher die Einführung von ökologischen Mindeststandards in der Filmförderung. Es ist aber gut, dass wir nun die nächste Stufe zünden können und die Anlaufstelle »Green Culture« jetzt ihre Arbeit aufnimmt. Diese so wichtige Transformation kann aber nur gelingen, wenn alle mitmachen.

Nachhaltigkeit hat aber nicht nur eine ökologische, sondern auch eine soziale Dimension. Ein weiteres wichtiges Anliegen ist deshalb für mich die soziale Absicherung von Kulturschaffenden. Die Pandemie hat uns noch einmal vor Augen geführt, in welch prekärer Lage Künstlerinnen und Künstler sich teilweise befinden. Sich auf ein Leben für die Kunst einzulassen, darf aber nicht bedeuten, dafür ein soziales Prekariat zu riskieren. Das ist immer noch zu oft der Fall.

Ich setze mich deshalb innerhalb der Bundesregierung entschieden für eine bessere Absicherung ein, z. B. wenn es um weitere Öffnung der Arbeitslosenversicherung für Soloselbstständige geht. In anderen Bereichen können wir mit meinem Haus selbst etwas tun – und tun es. Z. B. werden wir bei der Gestaltung unserer Förderpolitik jetzt Mindesthonorare festlegen. Schließlich wollen wir gemeinsam – und ich weiß, dass wir hier im Raum dieses Anliegen teilen und dafür an einem Strang ziehen – auch dazu kommen, dass die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern eine Selbstverständlichkeit wird im Kulturbereich. Genauso wie es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass es für alle und überall ein gutes, solidarisches und diskriminierungsfreies Arbeitsumfeld gibt, für das selbstverständlich Arbeitsschutz- und Arbeitszeitregeln gelten. Wir müssen gemeinsam gegen Machtmissbrauch, gegen jede Form von Diskriminierung und sexueller Belästigung vorgehen. Leider ist das ein drängendes Thema, wie erschreckende Beispiele in der jüngsten Zeit gezeigt haben. Umso wichtiger ist es – und dafür möchte ich Ihnen ausdrücklich danken –, dass der Deutsche Kulturrat hier mit der Branche und uns dabei ist, einen Code of Conduct zu erarbeiten.

Eine demokratische Kulturpolitik, wie ich sie verstehe, will aber nicht nur Kulturangebote stärken, will nicht nur in die Fläche unseres Landes wirken, sondern auch in die Breite der Gesellschaft. Sie sollte der Realität der Vielfalt unserer Gesellschaft gerecht werden, diese ansprechen, einladen.

Mein Verständnis von Kulturpolitik orientiert sich gerade nicht an der immer noch viel zu oft gepflegten Idee einer Kultur als Eliteprojekt eines Elfenbeinturms der schönen Künste. Ganz im Gegenteil! Wir brauchen einen erweiterten Kulturbegriff, der von Rap und Pop über Jazz bis hin zum klassischen Konzert in der Waldbühne eines Maestro Barenboim mit dem Starpianisten Igor Levit und den Wagner-Festspielen in Bayreuth geht. Ein Kulturbegriff, der die Oper wie den Plattenladenumfasst, den Roman wie auch die Graphic Novel und Mangas einschließt. Also endlich ein Ende von der Frage: »Sind Sie für E- oder für U-Musik?« Ich bin für Kultur!

In diesem Sinne habe ich etwa die Förderung der Popmusik stark ausgebaut, und erstmals wird auch der Bereich Comic gezielt unterstützt – um nur einige Beispiele zu nennen. Ich würde damit »Unkraut« fördern, wurde mir vorgeworfen. Mein Anspruch ist es, eine Kulturpolitik zu gestalten, die alle Teile der Gesellschaft in ihrer Vielfalt im Blick hat – und die die integrative, sinn- und orientierungsstiftende Kraft von Kunst und Kultur fördert. Kunst und Kultur können Begegnungen, Austausch und Verständigung ermöglichen, sie können dazu beitragen, das Zusammenleben unserer Gesellschaft in Verschiedenheit zu gestalten. Denn die offene Gesellschaft lebt von Kreativität, vom Widerstreit der Ideen. Deshalb brauchen wir die Vielfalt der ganzen Gesellschaft, brauchen wir Diversität, Respekt und Wertschätzung füreinander.

Einen wichtigen Beitrag dazu leistet die Initiative kulturelle Integration des Deutschen Kulturrates, gegen Rassismus und Antisemitismus. Sie hat gezeigt, wie »Zusammenhalt in Vielfalt« gelingen kann, hat gemeinsame Projekte angeschoben und so in die Gesellschaft gewirkt.

Ein in dieser Form ganz neues kulturpolitisches Instrument der Bundesregierung für die ganze Breite der Gesellschaft ist auch der KulturPass für 18-Jährige. Er richtet sich zunächst nur an diese Altersgruppe, aber eben an alle 18-Jährigen, die in diesem Land leben, ungeachtet ihrer Herkunft oder des gesellschaftlichen Milieus, in dem sie aufgewachsen sind. Der KulturPass gibt den jungen Menschen nicht vor, welche Kulturangebote sie damit nutzen sollen. Er hat aber durchaus eine klare Lenkungswirkung: Nach all den Pandemiejahren, in denen diese jungen Menschen nahezu ausschließlich Kulturangebote auf dem heimischen Sofa genutzt haben, setzt der KulturPass darauf, dass sie jetzt das Haus verlassen, um Kultur zu erleben. Selbst wenn sie damit Bücher erstehen, was sie bereits sehr umfangreich tun, müssen sie diese im Buchladen um die Ecke abholen, können dort viel anderes entdecken, kommen dort vielleicht sogar ins Stöbern, werden neugierig. Statt den gestreamten Film zu Hause anzuschauen, bringt der KulturPass bereits sehr viele junge Menschen vor die große Leinwand ins Kino, genauso wie zu den unterschiedlichsten Formen von Livemusik oder auch in das Museum vor Ort.

Nicht nur für die jungen Menschen hat der KulturPass eine aktivierende Wirkung, bringt sie dazu, Kultur außerhalb der eigenen vier Wände zu erleben, die damit verbundenen Eindrücke, Wahrnehmungen und Gefühle auch mit anderen zu teilen. Auch für die Seite der Kulturanbieter und -institutionen lässt sich beobachten, dass sich nun viele verstärkt darum bemühen, 18-Jährige gezielt anzusprechen, diese zu gewinnen – und damit idealerweise auch für die Zukunft langfristig zu binden. Damit haben wir ein ganz neues Beispiel dafür gesetzt, was eine neue Form von Kulturförderung sein kann.

Nicht zuletzt brauchen wir für diesen kulturpolitischen Ansatz, der die ganze Breite der Gesellschaft in den Blick nimmt, auch eine Erweiterung der Erinnerungspolitik. Selbstverständlich im Zentrum die NS-Verbrechen, denn es kann und darf keinen Schlussstrich geben. Darüber hinaus glaube ich, haben wir gut daran zu tun, dass wir die blinden Flecken unserer Geschichte aufarbeiten – beim SED-Unrecht haben wir Nachholbedarf, aber vor allem bei unserer kolonialen Vergangenheit. Ein wichtiger Teil der Geschichte unseres Landes sind heute aber auch Migrationsgeschichten. Diese Perspektiven unserer Einwanderungsgesellschaft sollten Teil unserer Erinnerungspolitik und kollektiven Erinnerung werden. Wir erarbeiten derzeit intensiv mit zahlreichen Expertinnen und Experten ein Rahmenkonzept Erinnerungskultur und ja, auch die rassistische Gewalt in unse-rem Land wird hierbei ein Thema sein.

Wie Ihnen vermutlich nicht entgangen ist, ist mein Verständnis von Kulturpolitik nicht ein möglichst geräuschloses Verwalten, sondern ein aktives Gestalten. So sind wir gerade auch dabei, die Filmförderung nicht nur ein bisschen, sondern grundlegend zu reformieren. Das alles kann auch Reibungen erzeugen, das kann Debatten und Kritik hervorrufen – solche Debatten in der Sache, um den richtigen Weg, um die geeigneten Instrumente der Kulturpolitik führe ich sehr gerne. Und dafür sind Sie hier, ist der Deutsche Kulturrat ein wichtiger Sparringspartner.

Aber um all den skizzierten Herausforderungen begegnen zu können, braucht Kulturpolitik, brauchen wir in besonderer Weise auch die Zusammenarbeit und den Zusammenhalt von Bund, Ländern, Kommunen und Kulturverbänden. Ihnen allen gilt mein ausdrücklicher Dank für Ihre Arbeit – gerade jetzt – weil sie Ihnen gerade jetzt viel abverlangt. Gerade in diesen Zeiten wäre es deshalb ein wichtiger Schritt und ein klares Signal, ein Staatsziel Kultur im Grundgesetz zu verankern. Das hängt nicht nur von uns ab, und dafür gilt es offenkundig noch einiges an Überzeugungsarbeit zu leisten, vor allem bei CDU und CSU – aber wir arbeiten intensiv daran. Damit würde in der Verfassung festgeschrieben, dass Kultur ein Grundnahrungsmittel für unsere Demokratie ist, welches der Staat zu pflegen, zu schützen und zu stärken hat – in ihrer Vielfalt und ohne Eingriff in ihre Freiheit.

Lassen Sie uns in diesem Sinne und in diese Richtung weiter gut zusammenarbeiten. Um die Kultur der Demokratie in unserem Land zu schützen und zu stärken.

Dieser Beitrag basiert auf der Rede von Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth MdB, anlässlich ihres Besuchs der Mitgliederversammlung des Deutschen Kulturrates am 21.09.2023 in Berlin.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.