Eine alte Lebensweisheit besagt: Probleme werden nicht gelöst, sondern durch andere Probleme abgelöst. Deshalb lohnt es sich, ungelöst-abgelöste Probleme nachträglich zu bedenken, weil sie bestimmt irgendwann in anderer Gestalt wiederkehren. In diesem Sinne möchte ich – auch wenn es niemand mehr hören kann – noch einmal über die zurückgezogene Anti-Antisemitismuserklärung der Berliner Kulturverwaltung nachdenken. Denn ein entscheidender Aspekt ist in der aufgeregten und jetzt abgestellten Diskussion zu kurz gekommen. Dabei könnte er dafür sorgen, dass uns bald eine kulturpolitische Folgedebatte beschert wird.

Mark Siemons, Redakteur der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, hat auf diesen Aspekt hingewiesen. Leider ist er, wenn ich recht sehe, nicht aufgegriffen worden. Deshalb zitiere ich ihn noch einmal: Die Funktion der Anti-Antisemitismusklausel, die Künstlerinnen und Künstler bei von der Stadt Berlin geförderten Projekten unterschreiben sollten, habe darin bestanden, »den Senat als Verteiler von Fördergeldern zu entlasten, unangreifbar zu machen«, wenn es zu antisemitischen Vorfällen in seinem Verantwortungsbereich kommen sollte. Das nämlich haben die meisten im Getöse um Kunstfreiheit und Antisemitismusdefinitionen übersehen: Das Ziel von Verwaltungsrichtlinien besteht nie nur darin, ein Sachproblem zu lösen, sondern oft oder manchmal vor allem darin, die Verwaltung abzusichern. Deshalb kam die inzwischen zurückgezogene Richtlinie zwar sehr dominant daher, sollte aber folgenlos bleiben: Eine Überprüfung oder Rückforderung von Projektmitteln war nicht vorgesehen. Die Kulturverwaltung wollte nur Unterschriften erhalten, die sie im Notfall hätte vorzeigen können, um die eigene Unschuld zu beweisen.

Noch einmal Siemons: Die Berliner Kulturverwaltung »kann dann immer darauf verweisen, dass die betreffenden Personen ihr gegenüber ja eine von allen relevanten staatlichen Stellen und der überwiegenden Mehrheit der Öffentlichkeit gedeckte Erklärung abgegeben haben; wenn sie dieser dann zuwiderhandeln, sei das nach Maßgabe der staatlich geschützten Kunstfreiheit nicht mehr die Sache der Behörde, die der ihr zuzumutenden Verantwortung durch Einholung einer Selbsterklärung gerecht geworden sei. Es geht da also letztlich nicht um eine Reduzierung des Antisemitismus, sondern um eine Formel, die das komplexe Problem für Bürokratien handhabbar machen soll.«

So ist es nicht nur beim Antisemitismus, nicht nur in Berlin, sondern überall in Deutschland, auch beim Brandschutz, bei der Korruptionsbekämpfung, beim Hausbau, bei Bankgeschäften und so weiter: Die Überfülle von Regulierungen ist nur zu verstehen, wenn man ihre Funktion für die Regulierenden bedenkt. Die Folgen dieses institutionellen Selbstschutzes sind bekanntlich fatal. Sie behindern die Arbeit, verursachen hohe Kosten, machen Verantwortung diffus, tragen zur eigentlichen Problemlösung wenig bei.

Doch bevor man sich über die bösen Bürokraten empört, sollte man bedenken, warum sie so denken und handeln – und warum man selbst es genauso täte, wenn man an ihrer Stelle wäre. Ein Grund ist die aufgeputschte Art, wie gegenwärtig über Probleme diskutiert wird. Es scheint, als wäre Skandalisierung die einzig mögliche Diskursform. Sie geht einher mit vollständiger moralischer Entwertung von Verantwortungsträgern bei sachlichen Fehlern und entsprechenden Forderungen, deren Berufsbiografien zu beenden. Ein abwägendes, klärendes und dann konstruktives Arbeiten wird so unmöglich. Wer heute in die Kritik gerät, der oder dem bleibt fast nichts anderes übrig, als zu den Floskeln gängiger Krisenkommunikation zu greifen und so zu tun, als würden Maßnahmen ergriffen. Und dann hofft man, dass möglichst bald jemand anderes ins Fadenkreuz der Skandalisierung gerät.

Beim Publikum, den Bürgerinnen und Bürgern, führt dieses Schauspiel übrigens nicht dazu, dass es sich interessiert und engagiert, sondern es löst Abstumpfung aus. Das ergibt dann ein seltsames Zugleich von medialer Erregung, politischem Aktivismus und allgemeiner Gleichgültigkeit.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.