Beschmierte und beschädigte Bücher, Stören von Veranstaltungen: Holger Krimmer, Geschäftsführer des Bibliotheksverbandes, spricht mit Ludwig Greven über zunehmende Angriffe auf öffentliche Büchereien und wie diese sich dagegen schützen können.

Ludwig Greven: Büchereien wer-den offenbar verstärkt Opfer rechter Angriffe. Zettel mit rechtsextremen und antisemitischen Parolen werden in oder auf Bücher geklebt, missliebige Bücher beschmiert oder beschädigt, Veranstaltungen gestört. Wie verbreitet ist das?

Holger Krimmer: Bekannt sind bisher nur Einzelfälle. Berichtet wird etwa von herausgeschnittenen Seiten und zerstörten Büchern. Soziologen beobachten seit Längerem, dass an die Seite der typischen politischen Konflikte entlang des Links-rechts-Schemas zunehmend neue Konflikte treten. Gegenstand der Auseinandersetzungen werden Fragen von Identität und Migration: Wer zur wie auch immer definierten Gesellschaft dazugehört, und wer eben nicht. Mit diesem politisch-kulturellen Konfliktthema sind zunehmend auch Bibliotheken konfrontiert. Das hat sich beispielsweise auch bei den Protesten gegen die Drag-Lesung in einer Münchner Bibliothek gezeigt. Das Polarisierungspotenzial dieser Konflikte ist erheblich.

Werden Bibliotheken zu einer Angriffsfläche des politischen Kulturkampfes?

Ja, das haben wir beispielsweise in Berlin-Schöneberg gesehen, wo eine Regenbogenfahne vor der Bücherei heruntergerissen und der Fahnenmast beschädigt wurde. Gleichzeitig bieten Bibliotheken ein Forum, um gesellschaftliche Selbstverständigung in ziviler Atmosphäre zu ermöglichen. Denn sie sind längst nicht mehr nur Orte, die lediglich Medien bereitstellen. Sie sind Orte eines lebendigen Dialogs und der zivilen Debatte. Der Bedarf an solchen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen steigt. Bibliotheken als niedrigschwellig zugängliche Räume und als publikumsstärkste Kultureinrichtungen, die von allen Seiten der Gesellschaft ein hohes Vertrauen zugeschrieben bekommen, haben hier ein erhebliches Potenzial.

Zeigen die Attacken, dass Büchereien als Orte solcher Auseinandersetzungen wahrgenommen werden?

Daran, dass Büchereien angegriffen werden, kann es nichts Positives geben. Denn Attacken sind nie das richtige Vorgehen, wenn es eigentlich um gesellschaftliches Aushandeln gehen soll. Die Studie eines französischen Soziologen hat gezeigt, dass es in Frankreich in den vergangenen Jahren über 70 Angriffe auf Bibliotheken gab, weil sie – so seine These – dort als Teil von Hochkultur und Macht wahrgenommen werden. Im Vergleich dazu kann man vielleicht sagen, dass es ein positives Zeichen ist, dass Bibliotheken in Deutschland überwiegend anders wahrgenommen werden: nämlich als Ort, der allen offensteht, als öffentlicher Raum. Und dass es daher seltener zu Angriffen auf Bibliotheken kommt.

Wie können Bibliotheken sich, ihre Mitarbeiter und die Nutzer schützen? Müssen jetzt alle Bücher nach der Rückgabe kontrolliert werden?

Bücher werden ohnehin nach jeder Rückgabe kontrolliert. Was auf keinen Fall Alltag werden darf, ist, dass Veranstaltungen von Bibliotheken wie in München gestört und von der Polizei gesichert werden müssen. Bibliotheken sind Orte des freien Zugangs zu Informationen. Dies muss gewährleistet bleiben.

Die AfD und andere Rechte beklagen, dass die Bibliotheken keine Bücher rechter Autoren und Verlage anböten. Müssen sie im Sinne der Meinungsvielfalt und politischer Neutralität auch solche Werke und Schriften mit Verschwörungserzählungen ankaufen und ausleihen?

Öffentliche Bibliotheken haben den Auftrag, eine informationelle Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Deshalb halten sie einen breit gefächerten Medienbestand vor, der die Lebenswirklichkeit einer modernen pluralen Gesellschaft abbildet. Dazu gehören Bücher des ganzen Spektrums politischer Positionen und Richtungen. Aber natürlich gibt es beim Bestandsaufbau ganz klare Grenzen: Extremistische Literatur, antisemitische oder solche, die offen verfassungsfeindlich argumentiert, wird nicht angeboten. An dieser Stelle ist vor allem zu unterscheiden, ob wir von wissenschaftlichen oder öffentlichen Bibliotheken sprechen. Liegt ein berechtigtes Forschungsinteresse vor, ist das natürlich ein anderer Sachverhalt.

Bücher von Corona- oder Klimawandelleugnern werden also angeboten, nicht aber von Holocaustleugnern?

Den Holocaust zu verleugnen ist eine Straftat. Solche Bücher werden in öffentlichen Bibliotheken nicht zu finden sein. Bibliotheken streben einen ausgewogenen Bestand an, der ein Spektrum an Meinungen wiedergibt. So gibt es beispielsweise Bücher von Impfgegnern genauso im Bestand wie Werke von Impfbefürwortern, damit sich jeder seine eigene Meinung bilden kann.

Auf der anderen Seite fordern Linke, Postkolonialisten und Antirassisten, Bücher auf ihre Sprachbilder und diskriminierende Inhalte zu überprüfen und zu ändern. Gibt es auch Forderungen an die Bibliotheken, solche Werke zumindest in der ursprünglichen Form aus dem Bestand zu nehmen und nicht mehr zu verleihen?

Aus postkolonialistischer und identitätspolitischer Sicht hat es in den vergangenen Jahren eine erhebliche Sensibilisierung für sprachliche Stereotype gegeben. Das ist ein Fortschritt und sicher zu begrüßen. Die offene Frage ist jedoch, zu welchen praktischen Schlussfolgerungen solche Erkenntnisse führen. Bibliotheken sind sich dessen bewusst und gehen auch mit ihren Nutzerinnen und Nutzern in den Austausch bzw. kontextualisieren diese Bücher. Das muss aber nicht bedeuten, den Bestand beispielsweise an älteren Übersetzungen und Textfassungen zu »bereinigen«.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.