Neben der militärischen Aggression führt Russland auch Krieg an der kulturellen Front. Dies äußert sich in der Zerstörung und dem Versuch der Herauslösung des ukrainischen Kulturerbes aus seiner Geschichte, Kultur und Tradition. Das Europäische Parlament hat kürzlich eine Entschließung zur kulturellen Solidarität mit der Ukraine und für einen gemeinsamen Krisenreaktionsmechanismus zur Wiederherstellung der Kultur in Europa beschlossen. Diese Entschließung, vorbereitet durch den Kulturausschuss, benennt ganz deutlich die Fakten, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine ein Versuch ist, die Identität und Kultur einer souveränen Nation auszulöschen, auch durch strategische und gezielte Zerstörungsakte an Stätten des kulturellen Erbes.  

Die Zerstörung von Kulturgütern ist eines der wichtigsten politischen Instrumente des Kremls im Zuge der bewaffneten Aggression gegen die Ukraine – und das nicht erst seit Beginn des Krieges am 24. Februar. Bereits bei der Besetzung und Annexion der Krim 2014 und der Teilbesetzung des Donbass hatte Russland dieses Ziel verfolgt. Was jetzt geschieht, ist lediglich eine Fortsetzung dieser Politik in einem größeren Maßstab. Viele Kulturobjekte der Ukraine befinden sich in Gebieten, die zurzeit von der Russischen Föderation besetzt sind – unter anderem in den Regionen Saporischschja und Cherson. Andere Kulturstätten sind in Regionen, die unter ständigem Raketenbeschuss liegen wie Charkiw, Tschernihiw, Mykolajiw und Odessa. 

Das Europäische Parlament verurteilt in seiner Entschließung die gezielte Zerstörung des kulturellen Erbes der Ukraine durch Russland und die Plünderung und den Schmuggel von Kulturgütern und benennt diese als Kriegsverbrechen im Sinne des Haager Übereinkommens von 1954, das beide Länder unterzeichnet haben. Russland versucht nicht nur das ukrainische Kulturerbe zu zerstören, sondern auch die nationale Einzigartigkeit, die Tradition und ultimativ das ukrainische Recht auf Existenz. Das kulturelle Erbe des Landes ist reich: Die Ukraine besitzt über 170.000 Denkmäler und Kulturobjekte, darunter archäologische Objekte und Zeugnisse aus Geschichte, Stadt- und Raumplanung, Architektur und Monumentalkunst. Hinzu kommen Sammlungen von mehr als 2.500 Museen und historischen Schutzgebieten. Das kulturelle Erbe des Landes wird außerdem in 1.400 Städten und Gemeinden sowie 8.000 Dörfern gepflegt. Und: In den Siedlungen der Ukraine gibt es mehr als 70.000 historische Objekte. Die Regierung der Ukraine hat eine Liste mit 401 Siedlungen aufgestellt, die als historisch besonders wertvoll eingestuft werden. Zudem zählen sieben Objekte, die sich teilweise oder in ihrer Gesamtheit auf ukrainischem Boden befinden, zum UNESCO-Welterbe. Davon gehören sechs zum Kultur- und eines zum Naturerbe.  

In den Kampfgebieten an der Front werden Kulturdenkmäler von Russland teilweise komplett zerstört. Russland rechtfertigt solche Verbrechen mit der angeblichen Nähe der Denkmäler zu Militärobjekten. In von Russland eroberten Städten wie Mariupol, Lyssytschansk, Sewerodonezk oder Rubischne sind 90 Prozent aller historischen Gebäude zerstört. In Lyssytschansk wurde z. B. ein Gebäudekomplex, der als das größte belgische Kulturerbe im Ausland gilt, zerstört. Russische Raketenangriffe haben Museen in Mariupol, Wolnowacha, Popasna und Isjum in Schutt und Asche gelegt. Auch in Charkiw, Mykolajiw und in der Region Saporischschja wurden durch russische Bomben zahlreiche Kulturdenkmäler vernichtet. 

Um dieser barbarischen Zerstörung etwas entgegenzusetzen, fordert das Europäische Parlament die Kommission und die Mitgliedstaaten eindringlich auf, die Bereiche Kultur und kulturelles Erbe in die humanitäre Unterstützung der EU für die Ukraine einzubeziehen und ukrainische Kulturakteure, lokale kulturelle Aktivitäten, Universitäten und die Zivilgesellschaft bei der Gestaltung und Entwicklung des Wiederaufbaus der Ukraine gezielt zu unterstützen. Dafür soll ein eigener europäischer Krisenreaktions- und Wiederherstellungsmechanismus eingerichtet werden, speziell ausgerichtet auf Kultur, kulturelles Erbe und kreative Ökosysteme. Fest steht, wenn wir die Ukraine als selbstbestimmtes Land unterstützen wollen, so müssen wir auch die ukrainische Kultur schützen, erhalten und für zukünftige Generationen bewahren.  

Der Angriff auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf unsere gemeinsame europäische Identität, unsere Werte und unsere Lebensweise, die sich durch offene, auf Demokratie und Achtung der Menschenrechte beruhende Gesellschaften auszeichnen. Besonders gefährdet durch den russischen Einmarsch sind Künstler und Kulturschaffende, Journalisten und Wissenschaftler. Die Freiheit der Kunst, die Qualität der Nachrichten, die Unabhängigkeit der Medien und der Zugang zu Informationen, die akademische Freiheit und die Freiheit der Meinungsäußerung werden durch Russland bedroht, beschnitten und negiert. Um diese Ziele zu erreichen, nutzt Russland auch akademischen und öffentlichen Einfluss in Europa. Dem müssen wir weiterhin entschlossen entgegentreten. 

Unter besonderer Berücksichtigung von Kunstschaffenden aus der Ukraine hat die Europäische Kommission ein neues dauerhaftes Mobilitätsprogramm für Kunst- und Kulturschaffende eingerichtet, »Culture Moves Europe«, sowie eine erste Bewerbungsrunde für individuelle Mobilität. Mit einem Gesamtetat von 21 Millionen Euro für drei Jahre aus dem Programm »Kreatives Europa« ist »Culture Moves Europe« das größte europäische Mobilitätsprogramm für Kunst- und Kulturschaffende. Es richtet sich an alle am Programm «Kreatives Europa« teilnehmenden Länder und alle Sektoren, die aus dem Aktionsbereich »Kultur« des Programms gefördert werden.  

Das Programm soll den dringenden Bedarf des Kultur- und Kreativsektors an einem inklusiven und nachhaltigen Mobilitätsangebot unter besonderer Berücksichtigung von Nachwuchskünstlerinnen und -künstlern abdecken. Es richtet sich in besonderer Weise an Kunstschaffende aus der Ukraine, die das Land nicht verlassen können. Diese können sich direkt für die virtuelle Mobilität bewerben und dafür eine erhöhte Förderung erhalten.  

»Culture Moves Europe« wird vom Goethe-Institut durchgeführt und umfasst zwei Maßnahmen: individuelle Mobilität und Residenzaufenthalte. Das Programm wird rund 7.000 Kunst- und Kulturschaffenden durch Mobilitätsbeihilfen die Chance eines Auslandsaufenthalts in der EU und in Drittländern bieten, damit sie sich beruflich weiterentwickeln oder international zusammenarbeiten, Künstlerresidenzen nutzen oder Kunst- und Kulturschaffende bei sich aufnehmen können. Die erste Bewerbungsrunde für individuelle Mobilität richtet sich an Kunst- und Kulturschaffende aus den Bereichen Architektur, Kulturerbe, Design, Modedesign, Literaturübersetzung, Musik sowie bildende und darstellende Künste aus Teilnehmerländern des Programms »Kreatives Europa«, die in einem anderen Teilnehmerland arbeiten möchten. 

Die aktuelle Bewerbungsrunde läuft vom 10. Oktober 2022 bis zum 31. Mai 2023. Die Maßnahme für individuelle Mobilität wird auf der Grundlage fortlaufender Aufforderungen durchgeführt, die alljährlich vom Herbst bis zum Frühjahr laufen und monatlich ausgewertet werden. Eine großartige Möglichkeit für Kulturschaffende und ein weiterer Beweis dafür, dass es sich lohnt, Kultur ganz oben auf die politische Agenda zu setzen!

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.