Am Anfang ist da diese ungewöhnliche Frau. Sie ist unabhängig, wohlhabend, selbstbewusst und erfolgreich. Khadidscha bint Khuweilid führt Ende des 6. Jahrhunderts im arabischen Mekka ein lukratives Unternehmen. Einer ihrer Mitarbeiter ist der entfernte Verwandte Muhammad Abul-Kasim Muhammad bin Abdallah. Khadidscha betraut Muhammad damit, eine Handelskarawane nach Syrien zu führen. Mit dem Ergebnis der getätigten Geschäfte zufrieden und von der Redlichkeit Muhammads überzeugt, macht sie ihrem Karawanenführer einen Heiratsantrag. Muhammad willigt ein. Es stört ihn nicht, dass Khadidscha 15 Jahre älter, einmal verwitwet sowie einmal geschieden ist und bereits mehrere Kinder hat. Khadidscha – die erste Frau des Propheten Muhammad. Mit ihr führt er eine monogame Ehe. Mit ihrem Reichtum stützt und mit ihrem gesellschaftlichen Rang schützt sie ihn und ermöglicht die Geburt einer neuen monotheistischen Religion. Khadidscha – die erste Frau im Islam, die »Mutter der Gläubigen«.

Hat Khadidscha ein Kopftuch, einen Schleier, einen Hidschab (Mantel, Umhang) oder einen Tschador (Zelt) getragen? Falls ja, dann nicht aus religiösen Gründen. Denn die koranische Aufforderung an Frauen, sich keusch zu kleiden und »den Schmuck, den sie tragen (körperliche Reize, Anm. d. A.), nicht offen zu zeigen, soweit er nicht normalerweise sichtbar ist, und ihre Tücher über ihren Busen zu ziehen« (Sure 24:31), erfolgt erst drei Jahre nach ihrem Tod. Und es hat etwas mit unflätigem Verhalten von Männern in Medina zu tun, die gegenüber den Frauen des Propheten anzügliche Bemerkungen gemacht haben. Die Frau gehört verhüllt, weil Männer sich und ihre möglichen Gelüste nicht im Griff haben, das ist die Botschaft. Unzählige Frauen in islamischen Ländern bedecken ihr Haupthaar, tragen Hidschab, Tschador, Burka, Parda, Niqab oder Kopftuch, weil es Teil einer islamischen Identität ist, die über 1400 Jahre von patriarchalen Denkern und Gelehrten geprägt wurde.

Die Verhüllung der Frauen ist einer der ideologischen Grundpfeiler der Islamischen Republik Iran, ist dieser Tage oft zu lesen und zu hören. Sie ist weit mehr. Sie ist das stoffgewordene Symbol für Unterdrückung, Gewaltherrschaft, Willkür, Unfreiheit und Unrecht. Deswegen gehen im Iran seit Wochen Demonstrantinnen auf die Straße. Es geht ihnen um weit mehr als um die Freiheit, ihr Haar offen tragen zu dürfen. Der Liedermacher Shervin Hajipour hat in seinem Lied »Baraye« vieles auf den Punkt gebracht, was Menschen im Iran umtreibt. Das persische Wort Baraye bedeutet auf Deutsch für/wegen. Das Lied Baraye ist zur Hymne der Protestierenden dieser Tage geworden: für Tanzen in den Straßen; für Küssen ohne Angst; für unsere Schwestern; wegen der Armut; dem verfaulten Denken; für die Sehnsucht nach einem normalen Leben; wegen der dreckigen Luft und dem Kind, das von Müll lebt; für die vertrockneten Bäume und dem letzten vom Aussterben bedrohten Gepard; für die Studenten und die Zukunft; wegen des erzwungenen »Paradieses« – für die Freiheit!

Mehr als 200 Menschen sind in den vergangenen Wochen von staatlichen Schergen getötet worden. Viele Hundert wurden in Gefängnisse geworfen. Dort wird gefoltert, vergewaltigt, gemordet. Das Regime ist ruchlos und kennt keine Gnade. Seit mehr als 40 Jahren wird jede Form von Opposition verfolgt und niedergemacht. Die Herrschenden sind durch Gewalt an die Macht gekommen. Sie werden sie niemals freiwillig aus den Händen geben. Denn sie wissen, was sie zu verlieren haben: angehäufteReichtümer, sichere Jobs, Privilegien, ihr Leben.

Die Bilder von demonstrierenden Menschen in Dutzenden von iranischen Städten mögen hierzulande den Eindruck erwecken, das Regime gerate ins Wanken, weil die Bevölkerung sich erhebt. Tatsächlich sitzt das Regime fest im Sattel. Denn die Revolution von 1979 hat nicht alle ihre Kinder gefressen. Sie hat viele neue Monster in die Welt gesetzt. Wer sich aktiv zum Regime bekennt, wird materiell versorgt. Die Zahl der Nutznießer geht in die Millionen. Solange es ihnen gut oder leidlich gut geht, verhalten sie sich ruhig.

Zu den Stützen des Regimes gehört die im November 1979 von Ayatollah Khomeini ins Leben gerufene paramilitärische Volksmiliz »Basidsch-e Mostaz’afin«– die »Mobilisierung der Unterdrückten« mit mehreren Hunderttausend Aktivisten und Reservisten – darunter sehr viele Frauen. Die Basidschi knüppelten 2009 die Proteste gegen mutmaßlichen Wahlbetrug und 2019 Demonstrationen für Reformen nieder. Auch jetzt gehen sie wieder mit großer Brutalität gegen Demonstrierende vor.

Die »Lebensversicherung« des Regimes ist die »Sepāh-e Pāsdārān-e Enqhelāb-e Eslāmī« – die Armee der Wächter der Islamischen Revolution – kurz: die Revolutionsgarde. Deren Hauptzweck besteht darin, den Bestand der Islamischen Republik zu sichern. Die Garde untersteht direkt dem Obersten Rechtsgelehrten und Revolutionsführer Ali Khamenei – ein konservativer Hartliner und eingeschworener Gegner westlicher Werte. Die Truppenstärke der bereits im Mai 1979 von Ayatollah Khomeini aufgestellten Garde wird auf rund 125.000 aktive Soldaten geschätzt. Viele Ex-Offiziere der Garde besetzen heute Schlüsselpositionen in Politik und Wirtschaft. Die Garde kontrolliert mit Hunderten von Unternehmen und Subunternehmen, Banken, Medienhäusern, Öl- und Gasförderanlagen sowie Hoch- und Tiefbaufirmen einen Großteil der iranischen Wirtschaft. Die Unternehmen der Garde beschäftigen Hunderttausende Menschen, sie zahlen keine Steuern oder Einfuhrzölle und machen dadurch satte Gewinne. Die Revolutionsgarde bildet einen Staat im Staat. Sie ist für das Atomprogramm verantwortlich, ebenso für Entwicklung und Herstellung ballistischer Raketen und Drohnen.

Junge Menschen sterben auf den Straßen und in den Gefängnissen Irans. Und der Ruf wird lauter, den Demonstrierenden irgendwie zu helfen. Sanktionen – die westliche »Allzweckwaffe« – werden angekündigt und verhängt. Sie sollen jene treffen, die für Unterdrückung und Blutvergießen verantwortlich sind. Doch dieses Schwert ist stumpf. Seit 2010 verhängte Wirtschaftssanktionen haben die iranische Privatwirtschaft ruiniert, den Mittelstand geschwächt und die wirtschaftliche Macht der Pasdaran genannten Revolutionswächter gestärkt. Den Boykott iranischen Öls durch den Westen hat Peking zu nutzen gewusst. China ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftspartner Irans und als ideologischer und strategischer Gegenspieler der USA ein natürlicher Verbündeter des Unrechtsregimes in Teheran. Mit Russland kollaboriert der Iran wirtschaftlich und militärisch. Teheran liefert Putin Drohnen für dessen Krieg in der Ukraine. Den Iran mit Sanktionen zu bestrafen und politisch zu isolieren, verfängt schon lange nicht mehr.

Zurück zur eingangs erwähnten Khadidscha. Was wissen junge Frauen und Mädchen im Iran über die »Mutter der Gläubigen«, die selbstbewusste und wohlhabende Unternehmerin? Was wollen sie über Khadidscha und über den Islam wissen? Viele Menschen im Iran – ob jung oder alt – wollen mit dem Islam nichts zu tun haben. 42 Jahre Zwang im Glauben, Lügen über Lügen von sowie schamlose Bereicherung durch und mithilfe der Kleriker haben den Islam für viele Iranerinnen und Iraner diskreditiert. Der Oberste Rechtsgelehrte Ali Khamenei, 83, beginnt seine Reden steht’s mit Bismillah-ir-Rahman ir-Rahim – im Namen Gottes des Gnädigen, des Allerbarmers. Seit vier Jahrzehnten erlebt das iranische Volk, wie sich der Klerus gnadenreich die Taschen füllt, wie unbarmherzig die Geistlichen mit Opposition, Meinungsfreiheit und Menschenrechten umgehen. In keinem anderen islamischen Land sind die Moscheen so leer, wird die Geistlichkeit so nachhaltig verachtet, ist der Islam mit seinen Heilsversprechen so weit von großen Teilen der Bevölkerung entfernt wie in der Islamischen Republik Iran. Auch wenn es schmerzt: Ein Ende von Unterdrückung und Unrecht im Iran ist noch lange nicht in Sicht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 11/2022.