Das Ideal der deliberativen Demokratie ist der herrschaftsfreie Diskurs. Es gibt keine Hierarchie zwischen den Diskursteilnehmern, alle haben die gleiche Möglichkeit, ihren Standpunkt zu Gehör zu bringen und zu begründen, niemand wird zum Schweigen gebracht, niemand beansprucht für sich die Diskurshoheit. Die Teilnehmer an einem Diskurs begegnen sich auf Augenhöhe, sie hören einander zu, schneiden sich nicht das Wort ab und beenden die Kommunikation nicht willkürlich. In der Habermas’schen Variante deliberativer Demokratie ist diese mit einer nicht unproblematischen Erkenntnistheorie unterlegt, wonach sich Wahrheit als idealer Konsens definieren lässt. Demnach wäre das, auf was sich Personen in einem herrschaftsfreien Diskurs ohne Einschüchterung und Ausgrenzung einigen würden, gültig. Diese Gültigkeit kann man soziologisch interpretieren, nämlich als Anerkennung einer Norm in der betreffenden Diskursgemeinschaft oder als objektive Geltung, das heißt als eine Art Wahrheitsdefinition für Normen. In der soziologischen Deutung ist dies eine plausible Annahme, nämlich, dass in einer Diskursgemeinschaft, die niemanden ausgrenzt, niemanden unterdrückt, alle gleichermaßen anhört, Konsense bezüglich bestimmter Normen dazu führen, dass diese Norm als gültig anerkannt wird. Als Analogon zu einer Wahrheitsdefinition allerdings taugt dieses Kriterium nicht. Auch unter idealen epistemischen Bedingungen kann ein Konsens in einer herrschaftsfreien Diskursgemeinschaft irrtümlich sein. Im Bereich der empirischen Wissenschaften ist dies unumstritten. Niemand käme dort auf die Idee, dass etwa eine physikalische Theorie dann wahr ist, wenn Personen sich in einem herrschaftsfreien Diskurs darauf einigen würden. Es kann zu neuen Entdeckungen kommen, die die bisherige Theorie infrage stellen oder widerlegen. Wir bleiben in den empirischen Wissenschaften immer auf der Suche nach der Wahrheit, nach der Theorie, die die Realität am besten beschreibt. Es ist die physikalische Realität, die den letzten Prüfstein der Theorie darstellt, obwohl uns diese Realität nie unmittelbar, das heißt ohne begriffliche und theoretische Voraussetzungen zugänglich ist.
Ich plädiere dafür, auch die normativen Geltungsfragen in Analogie zu den empirischen zu behandeln: Auch hier sind wir immer auf der Suche, wir versuchen, herauszufinden, was gerecht ist, wir bringen Argumente vor, die für eine kulturelle oder politische Praxis sprechen. Und wir sollten dies in der Tat im offenen Austausch von Argumenten tun, das heißt in einem Rahmen, den man durchaus als »herrschaftsfreien Diskurs« bezeichnen kann. Aber auch dann, wenn die Form des Austausches von Argumenten den Bedingungen einer idealen Diskursgemeinschaft genügt, können wir uns irren.
Unbeschadet dieser Differenz zwischen einer realistischen und einer konstruktivistischen Interpretation normativer Geltung bleibt eine wichtige Gemeinsamkeit: Der Einsatz von Herrschaftsmitteln, das Ausnutzen von Machtgefällen, die Unterdrückung missliebiger Meinungen durch dominante Mehrheiten oder mächtige Minderheiten behindert den Erkenntnisprozess. Im Falle normativer Regeln kommt hinzu, dass die Angemessenheit einer Verhaltensregel oder einer politischen Institution davon abhängt, dass sie den Interessenlagen aller gleichermaßen gerecht wird. Die Unterdrückung von missliebigen Meinungen durch mächtige Akteure schließt damit nicht nur einen abweichenden Standpunkt aus, sondern marginalisiert zugleich die Interessen, die diese zum Ausdruck bringen. Das aufklärerische Projekt beruht auf der Annahme, dass der Austausch unterschiedlicher Standpunkte, die möglichst vorurteilsfreie Prüfung von Argumenten, dass Meinungsvielfalt und Widerspruch wissenschaftliche und lebensweltliche Erkenntnis fördern und freie Selbstbestimmung ermöglichen, dass der Ausgang aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit« (Immanuel Kant) nur über die Offenheit des Geistes zu erreichen ist.
Der Rückzug in die Zitadelle der eigenen Gewissheiten, die durch entgegenstehende Auffassungen nicht erschüttert werden, weil diese nicht mehr Teil des Diskurses sein dürfen, die Beschränkung des Austausches auf die Gemeinschaft Gleichgesinnter und der Versuch, die Meinungsäußerungen derjenigen, die nicht dazugehören, zu unterdrücken, markiert den Weg in die voraufklärerische Vergangenheit gefestigter Dogmen und weltanschaulicher Autoritäten.
Aber ist dieses aufklärerische Ideal einer freien Diskursgemeinschaft nicht eine große Illusion? Müssen wir nicht spätestens unter den Bedingungen moderner, zumal digitaler Massenmedien die Realitäten einer Ökonomie der Aufmerksamkeit in Rechnung stellen? In den 280 Zeichen langen Tweets auf X, vormals Twitter, bleibt kein Platz für das differenzierte Argument und den respektvollen Umgang mit Einwänden. Hier gilt es, knapp und so prägnant wie möglich den eigenen Standpunkt zu markieren, um im Strom der Daten und Meinungen Beachtung zu finden. Schon das Bemühen um Begründung kann diese Absicht vereiteln. Argumente langweilen zumeist diejenigen, die diese nicht teilen. Provokationen reizen zu Reaktionen und lenken damit die Aufmerksamkeit auf die eigene Intervention.
Diejenigen, die Wissenschaft zu ihrem Beruf gewählt haben, wissen, dass die Realitäten in der durch Schnelllebigkeit, globale Konkurrenz und ökonomische Interessen geprägten Forschung der Gegenwart, dem Ideal fachlicher Rationalität nur selten nahekommen. Dennoch prägt dieser Gegensatz zwischen Fachdiskursen einerseits und politischen und kulturellen Debatten andererseits das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Es gibt einen anschwellenden Chor derjenigen, die der politischen Praxis in der Demokratie und der öffentlichen Meinungsbildung die Kompetenz absprechen, um die anstehenden Menschheitsprobleme zu lösen. Und die ihre ganze Hoffnung auf die fachliche Expertise in Disziplinen und in technologischen und ökonomischen Praktiken suchen. Die politische Praxis in der Demokratie sollte demnach die großen Menschheitsaufgaben an Expertengremien delegieren und damit die fatalen Wirkungen der Irrationalität öffentlicher Meinungsbildung gerade unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie beschränken.
Dieser neue Elitarismus wird allerdings genau das Gegenteil des Beabsichtigten erreichten. Die populistischen Bewegungen, die die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform gegenwärtig gefährden, beziehen ihre Kraft aus der verbreiteten Einschätzung, dass es ohnehin nur kleine Eliten sind, die über die Geschicke der Welt und des eigenen Landes entscheiden, während die demokratischen Verfahren der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung lediglich eine Staffage sind, um das Volk ruhig zu schalten. In unterschiedlichen Varianten, die insbesondere rechts im politischen Spektrum angesiedelt sind, setzen die Populisten auf die unmittelbare Transformation des Volkswillens durch eine charismatische Führungsfigur, die die Volksmeinung artikuliert und machtvoll gegen Eliten durchsetzt, und da die Institutionen der Demokratie diese Transformation des Volkswillens in politische Praxis behindern, müssen sie mit mehr oder weniger radikalen Methoden zerstört werden. Die moderne Demokratie als ein spätes Projekt der Aufklärung wird zur Expertokratie pervertiert, um dann unter dem Ansturm des Populismus zu kollabieren. Der 6. Januar 2021 mit dem Angriff auf das Kapitol hat gezeigt, dass diese Entwicklung keineswegs unrealistisch ist.
Dem müssen wir den öffentlichen Vernunftgebrauch, eine Zivilkultur des respektvollen Umgangs und das Vertrauen auf die lebensweltliche Vernunft der Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie entgegensetzen. Die Wissenschaft mit ihren parzellierten Expertisen kann die Rationalität der politischen Praxis in der Demokratie nicht retten. Vielmehr ist sie aufgerufen, ihre Kenntnisse, soweit sie politisch relevant sind, in einer Sprache in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, die allgemein verständlich ist und dabei die jeweilige Begrenztheit ihres disziplinären Standpunkts mitzudenken. So wie die Virologie nicht in der Lage war, die Auswirkungen von Schul- und Kitaschließungen für die Bildungsentwicklung eines Landes und die sozialen Folgen der Shutdown-Maßnahmen zu bedenken, so kann die Klimaforschung keine politische Strategie einer nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialentwicklungen entwerfen. Ohne den öffentlichen Vernunftgebrauch und eine vitale Zivilkultur, die diesen trägt, kann die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform nicht bestehen. Wenn dieser öffentliche Vernunftgebrauch durch Ausgrenzung, Parzellierung, Diskriminierung, Intoleranz und Cancel Culture zugrunde ginge, wäre die Demokratie als eine Form der kollektiven Selbstbestimmung der Gleichen und Freien nicht zu retten.