Dienstagmorgen, 1. und 2. Stunde Kunst, Klasse 9F. Schülerinnen- und Schülerperspektive: Die einen freuen sich auf zwei Stunden Entspannung, die anderen müssen unbedingt unter der Bank noch die Mathehausaufgaben machen, die nächsten sind begeistert, dass endlich einmal gemalt oder gezeichnet wird – also die Sinne angesprochen werden. Die Kinder sind in Deutschland geboren oder erst vor Kurzem hierhergekommen, sie sprechen Deutsch, klar, aber auch Ukrainisch, Türkisch, Polnisch, Arabisch, Schwedisch, Finnisch oder auch andere Sprachen. Sie gehören keiner Religionsgemeinschaft an, sind christlich, muslimisch oder auch jüdisch erzogen. Manche haben den zweiten Liebeskummer, andere fragen sich, in wen sie sich überhaupt verlieben können. Lehrerinnen- und Lehrerperspektive: Schon wieder die 9F, F wie »frech« und nicht wie »folgsam«. Die Auseinandersetzung im Kollegium, dass Kunst ein ganz normales Schulfach ist wie Mathematik, Englisch oder Deutsch und nicht nur Dekoration für die maroden Wände der Aula. Der in der Coronazeit versäumte Lehrstoff muss irgendwie nachgeholt werden. Die Anforderungen steigen und steigen. Manchmal wäre ein sozialpädagogisches Studium vielleicht doch das bessere Rüstzeug für die Anforderungen im Klassenzimmer gewesen als ein Kunststudium. Und zugleich das Brennen für das Fach, die feste Überzeugung, dass gerade die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen visuellen Ausdrucksformen wichtiger denn je ist und den Schülerinnen und Schülern vermitteln werden kann, wie visuelle Ausdrucksformen entstehen, in welchem Kanon sie stehen, wie sie hinterfragt werden können und wie sie gemacht werden. Kurz gefasst, das ganz normale aufgewühlte Durcheinander in einer Klasse in Deutschland, mit allen Freuden und auch Konflikten – Normalität eben. Auf diese Normalität traf im letzten Sommer der gemeinsame Aufruf an die Kunstlehrkräfte in Deutschland der Initiative kulturelle Integration und des »BDK Fachverband für Kunstpädagogik« sich an einem Wettbewerb »Junge Kunst für Hanau« zu beteiligen. Der Aufruf richtete sich an alle Lehrkräfte des Faches Kunst, unabhängig von Schulform und Klassenstufe. Es ging darum, sich mit dem Anschlag am 19. Februar 2020 in Hanau auseinanderzusetzen, bei dem aus rassistischen Motiven von einem jungen Deutschen neun Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte getötet wurden. Ein Anschlag, der tief erschüttert. Ein Thema, das mitten in den Schulalltag trifft, das die Schülerinnen und Schüler angeht.

Bei dem Wettbewerb ging es um mehr als Dekoration. Es ging darum, sich mit dem Anschlag, mit Rassismus, mit Antisemitismus und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auseinanderzusetzen und schließlich hierzu Bilder, Skulpturen, Plakate, Installationen, Fotografien oder anderes zu schaffen.

Insgesamt 350 Werke wurden eingereicht. Von diesen 350 wurden 84 ausgewählt, die vom 13. bis 28. Februar in der Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz am Kulturforum in Berlin zu sehen waren. Auf der Website der Initiative kulturelle Integration werden die Bilder länger zugänglich sein. Rund 400 Schülerinnen und Schüler waren an diesen 84 Exponaten beteiligt, da es auch verschiedene Gruppenarbeiten gab. Die jüngsten Schülerinnen und Schüler besuchten die 5. Klasse, die Ältesten waren in der 13. und bereiten sich auf ihr Abitur vor. Beeindruckend ist die Vielfalt an Ausdrucksformen: Ölgemälde, Plakate, Fotos, Cyanotypien, Scherenschnitte, Installationen und anderes mehr waren zu sehen. Beeindruckend ist ebenfalls die Tiefe der Auseinandersetzung. Bei der Ausstellungseröffnung berichteten sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte, wie sehr sie das Thema berührt hat, wie intensiv sie sich damit auseinandergesetzt haben, wie viele Stunden zunächst über das Attentat gesprochen wurde, welche Erlebnisse bei Schülerinnen und Schüler wieder hochkamen, aber genauso welche Abwehrreaktionen es gab, dass das Thema zunächst weggeschoben werden sollte. Neben den sehenswerten Arbeiten, die die Stärke und Möglichkeiten des Schulfaches Kunst zeigen, sind die Potenziale und Intention des Schulwettbewerbs, dass er ganz normal im Unterricht stattfindet. Er richtet sich eben nicht nur an die ohnehin Engagierten, die am Nachmittag in Kunst-Arbeitsgemeinschaften mitarbeiten oder Initiativen zur Antirassismusarbeit mitwirken. Es sollen möglichst viele erreicht werden: Gerade auch jene, die sich bislang noch nicht mit Rassismus oder Antisemitismus befasst haben. Und jene, die noch nie etwas vom Anschlag in Hanau gehört haben sowie auch die, die von ihren Eltern hören oder auf Social Media lesen, dass »die ganzen Ausländer am besten rausgeworfen werden sollten«.

Erst Mitte Februar hat die Bildungsstätte Anne Frank einen Bericht veröffentlicht, wie nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Israel, antisemitische und israelfeindliche Inhalte auf der Plattform TikTok massiv zugenommen haben. Sie schreiben: »In Bezug auf den 7. Oktober ist hier eine Flut fragwürdiger, feindseliger, antisemitischer und offen demagogischer Inhalte entstanden, in denen die problematischen Tendenzen sozialer Medien sich in bisher beispielloser Weise potenziert haben.« Viele Inhalte richten sich gezielt an Kinder und Jugendliche, die einen erheblichen Teil ihrer Zeit auf dieser Plattform verbringen. Desinformation, Gewaltdarstellungen, Hate-Speech, Verschwörungsideologien usw. verbreiten sich in Windeseile.

Es wäre eine Überforderung des Kunstunterrichts, ihm allein die Aufgabe zuzuweisen, die Missstände in der digitalen Medienbildung zu beheben. Es ist aber eine genuine Aufgabe, sich mit Bildern, mit Bilderwelten auseinanderzusetzen und vor allem die Schülerinnen und Schüler sind da – ob sie wollen oder nicht.

Um möglichst viele Kinder und Jugendliche zu erreichen, wurde nach dem Schultheaterwettbewerb im Schuljahr 2022/23 im Schuljahr 2023/24 der Kunstwettbewerb angestoßen. Der Dank geht an den BDK, dass er sich auf das Abenteuer eingelassen hat, an die Lehrkräfte, die mit ihren Schulklassen mitgemacht haben und an die Schülerinnen und Schüler. Eine Lehrkraft unterstrich bei der Ausstellungseröffnung, dass alle gewonnen haben, unabhängig davon, ob die Arbeiten in Berlin zu sehen waren oder nicht. Allein die Befassung mit der Fragestellung und die künstlerische Umsetzung waren ein großer Gewinn. Beeindruckt hat einmal mehr Serpil Temiz Unvar. Ihr Sohn, Ferhat Unvar, wurde am 19. Februar 2020 getötet. Sie hat die Bildungsinitiative Ferhat Unvar ins Leben gerufen, die für Alltagsrassismus sensibilisiert und Jugendliche zu Teamerinnen und Teamern ausbildet. Bei der Eröffnung führte sie aus, dass bei der Gründung der Bildungsinitiative viele gedacht hätten, dass es die Aktivität einer trauernden Mutter sei, die im Sande verläuft. Dem ist aber nicht so, die Bildungsinitiative wächst, sie setzt bei den Stärken junger Menschen an, unterstützt und begeistert sie.

Im Schuljahr 2024/25 steht wiederum ein Schulwettbewerb an. Vertreter des Bundesverbandes Musikunterricht haben sich am 13. Februar ein Bild davon gemacht, was alles möglich ist. Seien Sie gespannt, was im kommenden Jahr zu sehen oder zu erleben sein wird.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 3/2024.