Der Krieg in der Ukraine geht jetzt in die fünfte Woche und wir lernen schmerzhaft in zwei Wahrheiten zu denken. Die eine Wahrheit ist die des Mitleids mit den Menschen in der Ukraine. Der wäre doch kein Mensch, den diese täglichen Bilder nicht erschüttern würden, Bilder von verzweifelten Frauen und vor Angst reglos gewordenen Kindern; von Alten, die sich in ein Schicksal ergeben, das sie bis in ihre letzte Lebensetappe verfolgt; und die Jungen mit ihrem lakonischen Überlebensmut. Man möchte sie in die Arme nehmen; und viele tun es ganz selbstverständlich. Und dann gibt es die andere, die bittere Wahrheit: nicht helfen zu können und mit zurückgebundenen Händen verfolgen zu müssen, wie ein tapferes Volk um sein Überleben ringt.

Auch die Schlaumeier haben in den letzten Tagen wieder zu ihrer Sprache gefunden; reden über Waffensysteme und Eskalationsszenarien, als ob es nichts Selbstverständlicheres gäbe. Und im Deutschen Bundestag verteidigen die Grünen den neuen Rüstungsetat. Wir leben in einem Moment, in dem nichts mehr so ist, wie es war und alles möglich erscheint. Zeitenwenden seien »komplexer als es auf den ersten Blick erscheint«, hat der Münchner Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel kürzlich bemerkt, was eine Binsenweisheit ist und doch wieder nicht. Aber wollen wir die Erläuterungen wirklich alle hören, wann den einen die Munition ausgeht und den anderen das Benzin?

Es ist jedenfalls bemerkenswert, wie schnell die akademische Osteuropaforschung die Geschichte dieser beiden sich auf Leben und Tod bekriegenden Völker – Andreas Kappeler hat sie ungleiche Brüder genannt – nicht mehr aus der Moskauer Zentralperspektive, sondern von ihren ukrainischen Rändern her zu erzählen beginnt. Die Kiewer Rus, so liest man etwa bei Schulze Wessel, der auch Ko-Sprecher der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission ist, habe ihre historische Fortsetzung nicht etwa in Wladimir und Moskau gefunden, sondern »in ihren westlichen Territorien, das heißt in Galizien und Wolhynien und später in der Adelsrepublik Polen-Litauen«. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil wir nicht nur einen akademischen Paradigmenwechsel erleben, sondern auch hautnah dabei sind, wie sich die ukrainische Nation gerade selbst erfindet – und ihre eigenen Traditionslinien dazu.

Wir lernen gerade ein Land kennen, von dem wir kaum etwas wussten; und wir hören von der Zerstörung von Städten, die es auf unserer mentalen Landkarte schon gar nicht mehr gab. Im Moment ihrer größten Bedrohung scheint eine Welt vor uns auf, von der selbst Karl Schlögel, der große Kenner des Ostens, sich eingestehen musste, dass man sich ein Leben lang mit Russland oder der Sowjetunion beschäftigt haben konnte, »ohne eine genauere Kenntnis von der Ukraine besitzen zu müssen«. Das ändert sich gerade dramatisch. Unsere gewohnte Perspektive dreht sich um. Sie ist nicht mehr, wie Schlögel das nennt, »imperial fokussiert«. Wir blicken nicht mehr von Moskau aus auf die Ukraine, von Wien, Krakau oder heute Berlin. Diese Ukraine blickt jetzt auf uns zurück; und sie liegt für Europa plötzlich nicht mehr an der geografischen Peripherie. Sie ist zum gefühlten Zentrum geworden.

Man kommt der Wahrheit dieses Krieges wohl näher, wenn man auch einkalkuliert, dass hier nicht nur eine junge, moderne Generation und deren westliche Lebensweise zerstört werden soll, sondern auch das nationale Gedächtnis. Kiew gilt heute eben nicht nur als das neue, »zweite Berlin«, sondern auch als die ewige »Mutter der russischen Städte«, so Schlögel.

Was es heißt, eine solche Stadt zu ermorden, hat Bogdan Bogdanović, der legendäre Bürgermeister von Belgrad im Anblick der Trümmer des Jugoslawienkriegs formuliert. Man will »ihre physische Kraft ersticken, ihren metaphysischen Eros auslöschen, ihren Lebenswillen, ihr Gedächtnis, ihr Selbstbewusstsein«. Es ginge diesen Städtemördern darum, »die Erinnerung in alle sieben Winde zu zerblasen«, zu beweisen, nicht nur, dass es eine Stadt nicht mehr gibt, sondern, »dass es sie nie gegeben hat«.

Kaum weniger leidenschaftlich formuliert das der ukrainische Historiker und Präsidentenberater Wasil Pawlow, der Putin vorwirft, das historische Gedächtnis der Ukraine zerstören zu wollen. Derzeit, so sagt er, werde nicht nur um Mauern gekämpft, sondern »um Identität, um historische Erinnerung, um die äußeren Symbole, mit der die Welt die Ukraine identifiziert«. Alles, was Putin tut, ziele darauf ab, »den Menschen die Erinnerung zu nehmen«.

Vielleicht ist es genau das, was uns Beobachter an diesem Kriegsgeschehen so überrascht, dass wir nicht nur die schweigende Zerstörung erleben und den fernen Tod unschuldiger Menschen, wie im Fall Grosnys oder Aleppos; sondern dass wir diesmal der Selbsterklärung eines bedrohten Volkes zuhören müssen, die durch ihr Medium, durch ihren Präsidenten fast täglich und immer eindringlicher zu uns spricht. Dass ist der große Unterschied dieses medial gewordenen Krieges, dass seine wahre historische Bedeutung nicht mehr allein im »Blick der Außenstehenden« entsteht, wie es einst Kant für die Französische Revolution geschrieben hat; sondern das blinde Geschehen zu seiner eigenen, symbolischen Repräsentation findet, so Boris Buden. Die Opfer blicken zurück, sprechen für sich und haben das Urteil über ihr Schicksal selbst gefällt. Vielleicht war das peinliche Schweigen des Deutschen Bundestags nach der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auch das insgeheime Eingeständnis, dass sich die alten Blickrichtungen dramatisch vertauscht haben.

Wir westlichen Bürger werden es lernen müssen. Es kommen jetzt keine versprengten Menschen zu uns mit »Myriaden wirrer Erinnerungen und aufgezwungener Geschichten«, so Bogdanović. Es kommt der beweglichste Teil dieser erwachten Nation und er wird sich in einer selbstbewussten Diaspora wiederfinden. Es wird dafür Räume brauchen und geeignete Medien. Und es wird der Wunsch an uns herangetragen werden, in der neuen Heimat ankommen zu können, ohne die eigene dabei zu verlieren. Und wir? Wir werden wohl wieder lernen müssen, was es heißt, am eigenen Schicksal zu hängen.

Aber was für diese jungen Ukra­iner gilt, gilt für die aus Putins Russland Flüchtenden nicht minder. Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, wächst der Strom derer, die ihr Land jetzt verlassen. Auch sie haben, wie Gerd ­Koenen so eindringlich schreibt, »eine Entscheidung getroffen, deren existenzielle Schwere wir uns kaum vorstellen können«. Koenen nennt auch das eine »zivilisatorische Katastrophe«, die an die »lange Geschichte einer immer neuen, gewaltsamen Verstümmelung der eigenen reichen humanen Potenziale Russlands anschließt«. Auf die erste und die zweite russische Emigration folgt jetzt die dritte. Die russische Geschichte beginnt im alten Elend wieder von vorn. Auch das müssen wir erst noch lernen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2022.