Nach der documenta fifteen, der Berlinale, dem Eklat im Hamburger Bahnhof, Protesten bei der Leipziger Buchmesse sowie Ausladungen von Veranstaltungen und Preisen hat man als verantwortliche Person im Kulturbetrieb das Gefühl, kaum etwas richtig machen zu können. Entweder hat man einen Antisemitismusskandal, weil sich Personen auf der eigenen Veranstaltung undifferenziert äußern. Weil sie, unsäglich, die Hamas nicht für den Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 verurteilen. Worauf dann eine erhitzte Öffentlichkeit äußerst scharf reagiert. Oder man sieht sich einem Boykott und organisierten Kampagnen ausgesetzt. Boykottaufrufe gibt es derzeit gegen Deutschland aus Kultur und Wissenschaft, seit Jahren geschürt vom BDS, gegen israelische Künstlerinnen und Künstler sowie Kulturtätige. Die Lage ist komplex, der Kulturbetrieb extrem verunsichert.
Beste Voraussetzungen, um ein weiteres Großevent der Kunstszene umzusetzen: den Deutschen Pavillon auf der Venedig Biennale. Nichts weniger als das ist unsere Aufgabe im Institut für Auslandsbeziehungen (ifa). Seit 1971 organisieren wir den Deutschen Beitrag auf der Kunstbiennale im Auftrag des Auswärtigen Amts; seit dieser 60. Ausgabe liegt die Verantwortung komplett bei uns. In einem nach zeitgemäßen, fairen und transparenten Kriterien umgestalteten Prozess wählte eine Fachjury Çağla Ilk als Kuratorin aus. Ihre Rolle war es, einen künstlerischen Beitrag für Venedig vorzuschlagen. Unsere Rolle bestand darin sicherzustellen, dass Kuratorin sowie Künstlerinnen und Künstler diesen Beitrag optimal umsetzen können. Dass die öffentlichen Mittel fließen und regelgemäß eingesetzt werden. Dass der italienische Denkmalschutz eingehalten wird. Und natürlich, dass die Sicherheit gewährleistet ist. Im Zentrum stand die Frage, wie wir während der Eröffnungswoche die Sicherheit der Beteiligten erreichen konnten. Dafür haben wir ein Sicherheitskonzept erstellt. Bisher wurde in unserer Organisation bei Kunstprojekten kein klassisches Risikomanagement angewandt, vor allem nicht unter solchen akuten Bedrohungen. Diese umfängliche Aufgabe kam diesmal zu allen bestehenden Aufgaben hinzu und forderte alle Mitarbeitenden heraus.
Als international arbeitende Kulturorganisation sahen wir mehrere Ebenen möglicher Konflikte, die wir austarieren mussten. Wir stehen für Deutschland, sind Teil der deutschen auswärtigen Politik. Da kommt es zwar passend, dass wir als Verein rechtlich unabhängig und frei in unserer Programmgestaltung sind. Aber nicht nur ist das Debattenklima in Deutschland derzeit kein einfaches, sondern es gibt auch den internationalen Diskurs, der anders funktioniert, teilweise konträr zum deutschen verläuft und z. B. an der documenta fifteen nicht die antisemitischen Vorfälle im Hauptaugenmerk hat, sondern dass Staat und Gesellschaft in die Kunstfreiheit eingegriffen haben. Oder der sich anders zu Israel/Palästina positioniert.
Wir mussten uns zwar nach allen Seiten orientieren, aber konnten mit dem Beitrag auch positive Gesprächsangebote in viele Richtungen machen: eine Zusammenarbeit, die als jüdisch-muslimisch gelesen werden kann. Zusammenarbeit mit der israelischen Künstlerin Yael Bartana zu einer Zeit, in der viele israelische Künstler und Kulturschaffende sowie Institutionen derzeit weltweit boykottiert werden. Eine kritische Sicht auf Deutschland.
Vier Krisenszenarien als Vorbereitung
Das Sicherheitskonzept bestand aus verschiedenen Teilen: Umfassende Informationen zur komplexen Struktur des Projekts holten alle Beteiligten ab und sorgten für einen gemeinsamen Wissensstand. Statements und Textbausteine, um auf Vorfälle zu reagieren, wurden für Social Media, Pressemitteilungen und als Teile von Reden und Moderationen vorab formuliert. Alles Vorbereitete hätte zum Einsatz kommen können. Das Presseteam hat exemplarisch fünf Szenarien entwickelt, angelehnt an die Vorkommnisse, die es bisher in der Kulturwelt gab: verbale Störungen während der Eröffnungszeremonie, ein kritisches Interview der Künstlerin mit der New York Times, Proteste bei der Eröffnungsparty. Hier im Einzelfall durchzuspielen, was bei nicht glimpflichen Ausgängen für Kettenreaktionen in Kraft treten würden, hat uns geholfen, vorher Maßnahmen zu identifizieren und zu ergreifen. Diese inkludierten: Gesprächskanäle aufbauen, z. B. mit Vertreterinnen der jüdischen Community, darunter dem Zentralrat der Juden, mit Antisemitismusbeauftragten sowie mit anderen relevanten Stakeholdern wie dem Bundestag, speziell dem zuständigen Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, und der Biennale Organisation. Das Auswärtige Amt unterstützte ebenfalls intensiv und stellte unter anderem Sicherheitspersonal zur Verfügung. Das hilfreichste Instrument war wahrscheinlich eine Ampel, die gezielt die zu erwartenden Äußerungen eingeordnet hat. Hier wurden mögliche Aussagen in grüne, gelbe und rote Stufen unterteilt. So wurde für alle Beteiligten, auch für das italienische Vermittlungspersonal vor Ort, deutlich, wo z. B. der Antisemitismus-Alarm angehen muss.
Sicherheitskonzept in der Praxis: Vier Vorfälle
Es gab insgesamt vier Vorfälle, die eine Krise hätten auslösen können: der Boykottaufruf, der Iran-Angriff, die Schließung des Israelischen Pavillons und die Proteste vor unserem Pavillon sowie bei der Eröffnung.
Eine Woche vor der offiziellen Eröffnung, am Samstag, den 13. April, griff unser Konzept erstmalig. Ab dann waren wir ihm Dauerkrisenmodus. Es gab einen Boykottaufruf gegen den Deutschen Pavillon, lanciert von »Strike Germany« und »ANGA – Art Not Genocide Alliance«, die zuvor schon zum Boykott des Israelischen Pavillons aufgerufen hatte. In derselben Nacht griff der Iran Israel an. Im Team um Yael Bartana breitete sich Angst aus. Ein Risiko war eingetreten: dass der Krieg direkte Auswirkungen hat. Es war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wie sich die Situation entwickeln würde. Und es wurden Sicherheitslücken identifiziert, z. B. dass bis dato keine Taschenkontrollen durchgeführt wurden. Wir erhöhten in Reaktion unter anderem die Anzahl des professionellen Sicherheitspersonals, verlegten die Eröffnung von draußen nach drinnen und organisierten Schulungen zu Deeskalation und physischer Sicherheit. Dazu kam am Montag die Ankündigung der israelischen Künstlerin Ruth Patir, dass der Israelische Pavillon geschlossen bleibt. Nun würde auch Yael Bartana ad hoc in Interviews dazu Fragen beantworten müssen. Hier war die enge und äußerst sensible Beratung durch das Presseteam des Deutschen Pavillons von elementarer Bedeutung. Am Mittwoch, dem ersten Preview-Tag für Fachbesucherinnen und -besucher, hatten sich mehrere hundert Personen vor dem Israelischen Pavillon zum Protest verabredet. Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort waren von der unmittelbaren Aggressivität und verbalen Gewalt bestürzt. Die Gruppe lief unter anderem zum Deutschen Pavillon weiter. Slogans waren »Israel bombadiert, Deutschland finanziert«, »Fuck you Germany« oder »Israel massakrieren«. Die zweite Aktion am Tag der Eröffnung direkt vor dem Deutschen Pavillon war weniger massiv und dauerte nicht länger als zehn Minuten. Die Proteste konnten kaum eine größere Masse an Menschen mitreißen und gingen in den sozialen Medien nicht viral. Bestreikt zu werden hat sich trotzdem als sehr gewaltvoll angefühlt.
Was haben wir gelernt?
Vielleicht war das Kernstück unseres Konzepts, Kommunikationswege im Vorfeld abgesprochen zu haben. Das hat vorab Arbeit gemacht, während der Eröffnungswoche und besonders während der oben genannten Vorfälle haben die so etablierten Kontaktgruppen aber schnelle Absprachen ermöglicht. Auch das Social-Media-Team, das nicht vor Ort war, konnte auf diese Weise eng einbezogen werden. Das ist wichtig, denn hier entflammen mögliche Szenarien am schnellsten. Durch die gemeinsame Arbeit am Konzept hat sich ein Vertrauen aufgebaut, das während der Veranstaltung getragen hat. Für den Pavillon haben wir zudem einen Code of Conduct erstellt. Bisher schien das nicht nötig, weil unsere Veranstaltungen immer friedlich verliefen. Hier war es essenziell, den gewünschten Rahmen zu definieren, inakzeptables Verhalten zu benennen und Konsequenzen aufzuzeigen. Genauso wie eine Hausordnung das Rauchen oder Sachbeschädigungen nicht vorsieht, sehen unsere Veranstaltungen keine Diskriminierung jeglicher Art vor. Mitarbeitende wissen durch solch einen Kodex, wann sie handeln müssen. Wie dieses Handeln aussieht, muss in Schulungen eingeübt werden. Die wichtigste Message: Wir können Protest und damit Bilder nicht verhindern, aber wir können beeinflussen, wie diese aussehen, und wie wir damit umgehen.