Ma Thida wurde 1966 in Rangun im Süden Myanmars geboren, wo sie auch ihr Medizinstudium absolvierte. Als Ärztin und Redakteurin war sie an verschiedenen Demokratisierungsinitiativen in ihrem Heimatland beteiligt, was 1993 zu ihrer Verhaftung führte. Ihre Memoiren über die Zeit im Gefängnis erschien 2016 auf Englisch unter dem Titel »Prisoner of Conscience: My Steps through Insein«. Gegenwärtig lebt Ma Thida als Stipendiatin der Martin Roth-Initiative in Berlin. Patrick Wildermann spricht mit ihr über die Situation in Myanmar, ihren Mut und ihr Ziel, in ihr Heimatland zurückzukehren. 

Patrick Wildermann: Ma Thida, Sie sind ausgebildete Chirurgin und Schriftstellerin. Inwieweit berühren sich diese Welten? Hat die Arbeit als Medizinerin Ihr Schreiben beeinflusst? 

Ma Thida: Als Ärztin habe ich es mit der Allgemeinheit zu tun, mit Menschen aus allen sozialen Schichten. Es ist eine Arbeit an der Basis der Gesellschaft, die mir nicht nur ein Verständnis für die alltäglichen Nöte der Menschen vermittelt hat, sondern auch Empathie. Gleichzeitig habe ich schon immer gern gelesen. Schon während des Medizinstudiums hatte ich den Wunsch, etwas eigenes zu schreiben, nachdem ich so stark durch die Literatur anderer inspiriert worden war. In beiden Fällen gilt der Fokus meines Interesses den Menschen und dem Versuch, ihnen zu helfen.  

Ihre ersten Kurzgeschichten sind in den 1980er Jahren entstanden. Wovon handelten sie? 

Ich war damals erst 16 oder 17 Jahre alt, die meisten meiner frühen Geschichten handelten von den Menschen, die mich umgaben. Darunter aber lag bereits die Beschäftigung mit meinem Land. Ich hänge schon lange einem Traum für Myanmar an. Unser Land ist geprägt von bewaffneten Konflikten, wechselnden Militärdiktaturen, wir haben ein miserables Bildungssystem. Wir brauchen Frieden und sozialen Wandel, das ist mir bewusst, seit ich jung war. Und dafür will ich mit meiner Arbeit ein Bewusstsein auch bei anderen schaffen.  

Wann sind Sie mit Ihrem Schreiben erstmals in Konflikt mit den Autoritäten geraten? 

Mitte der 1980er Jahre erschienen meine Geschichten regelmäßig in den wenigen Literaturzeitschriften, die es damals gab. Was auch ungewöhnlich war, weil zu dieser Zeit nicht viele Frauen bei uns geschrieben haben. Die Prüfungskommission für die Presse – so nannte sich die Zensurbehörde – wurde auf mich aufmerksam. Sie führte für Regimegegner eine schwarze Liste und eine braune, auf der auch ich stand. 1988 gab es Unruhen und einen Generalstreik, an dem ich mich beteiligt habe, darauf folgte ein Militärputsch. Die Machthaber wussten, dass ich mich aktiv für die Demonstrationen engagiert hatte, und begannen erstmals, die Veröffentlichung von einigen meiner Arbeiten zu unterbinden. Bereits wenige Monate nach dem Putsch. 

Begreifen Sie Ihr Schreiben als Widerstand? 

In der Geschichte Myanmars war die Literatur fast immer eine Plattform für den Widerstand. Wir hatten eine über hundert Jahre währende Kolonialherrschaft unter britischer Besatzung, gefolgt von einer kurzen Phase der Unabhängigkeit, bis ab 1962 verschiedene Militärregime das Land zu kontrollieren begannen. Zuletzt gab es eine kurze Phase der parlamentarischen Demokratie zwischen 2010 und 2021. Das bedeutet, es gibt keine Tradition freier Presse. Die Menschen sind es gewohnt, dass sie keine Informationen von unabhängigen Medien bekommen, sie wissen oft nicht, was in anderen Teilen des Landes vor sich geht, denn die Staatsmedien decken das nicht ab. Ein umfassenderes Bild können sie sich nur durch Kurzgeschichten, Romane, Gedichte oder Essays machen. Nicht nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller, auch die Leser begreifen Literatur als Plattform des Widerstands. 

Wie kann Kunst Freiräume bewahren in einer unfreien Gesellschaft?  

Auch das hängt nicht nur von den Schreibenden, sondern auch von den Leserinnen und Lesern ab. Die Jahre der strikten Zensur haben die imaginative Kraft der Menschen gestärkt, sie verstehen es, zwischen den Zeilen zu lesen und hinter die Worte zu schauen. Wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller verwenden nicht nur Metaphern, sondern auch Tricks und Taktiken, die von den Leuten entschlüsselt und verstanden werden. Verglichen mit anderen Kunstformen vermag gerade die Literatur solche subversiven Freiheiten zu schaffen.  

Haben Sie dafür ein Beispiel? 

Das Militär hat in den frühen 1980er Jahren eine Propagandakampagne gefahren, der zufolgedie westlichen Mediennur Lügen verbreiten würden, alle Ausländer uns feindlich gesonnen seien. Die Regierenden ließen im ganzen Land einen Slogan verbreiten, sinngemäß: Glaube keinen Fremden, glaube nur Menschen deines eigenen Blutes. In der Folge habe ich eine Kurzgeschichte mit dem Titel »The Advices of Blood« geschrieben, die Ratschläge des Blutes, die von einem Embryo handelt, der mit seiner Mutter zu sprechen beginnt: »Mach dir keine Sorgen, Mutter, ich bin dein eigenes Fleisch und Blut, dank deiner Güte und meiner Stärke werde ich sicher auf die Welt kommen …« 

1993 wurden Sie zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, wegen Unterstützung der Demokratiebewegung der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Wie haben Sie diese Zeit erlebt? 

Ich wurde angeklagt, gegen die Nationalversammlung agitiert zu haben, die eine undemokratische Verfassung umsetzen sollte. 1990 fanden Wahlen statt, bei denen die NLD – die Partei von Aung San Suu Kyi – mit großer Mehrheit gewonnen hat, aber anstatt ihr die Macht zu übertragen, wurde die Wahl vom Militärregime für ungültig erklärt. Dagegen habe ich meine Stimme erhoben. Gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen ist ein harter Job, den ich praktisch schon mein ganzes Leben lang ausübe. Von 2016 an hat Aung San Suu Kyi schließlich regiert, und obwohl ich nicht mit allem einverstanden war, was sie und ihre Partei umgesetzt haben, waren es gute fünf Jahre für unser Land. Jahre des sichtbaren Fortschritts. Bis 2021 ein neuerlicher Militär-Putsch alle Hoffnungen vorerst zunichte gemacht hat – der bislang schlimmste von allen. 

Inwiefern? 

Dieser jüngste Coup hat uns um 50 Jahre zurückgeworfen. Die Militärherrscher haben etliche Gesetze verschärft und Rechte eingeschränkt, zuletzt wurde verfügt, dass alle zivilgesellschaftlichen Organisationen über jede einzelne ihrer Aktivitäten informieren müssen. Versäumen sie das, drohen drastische Strafen. Und das ist nur ein Beispiel. Polizisten und Militärs haben zudem das Recht, jederzeit das Mobiltelefon jeder Bürgerin und jedes Bürgers auf der Straße zu kontrollieren und etwa die Fotos daraufhin zu überprüfen, ob die Person an Protesten teilgenommen hat. Oder sie checken deine Facebook-App und verhaften dich im Zweifelsfall an Ort und Stelle.   

Sie sind heute unter anderem die Vorsitzende des »Writer in Prison Committee« des Verbands PEN International. Welchen Rat haben Sie für andere Schreibende, die ins Gefängnis müssen? 

Zunächst mal sollte eine Haftstrafe keine Überraschung sein. Wenn wir uns als Aktivistinnen und Aktivisten engagieren, müssen wir uns darauf vorbereiten, dass uns alle möglichen üblen Dinge zustoßen können. Wir sollten uns bewusst sein, dass unsere Werke und unsere Worte uns in Gefahr bringen. Wer das Gefängnis vermeiden will, muss seine Zunge hüten. Aber wer frei sein möchte, sollte Vorbereitungen treffen. Ein anderer Punkt ist: Selbst im Gefängnis haben wir die Möglichkeit, uns unsere Freiheit zu bewahren. Das ist eine bewusste Entscheidung, die jede und jeder für sich treffen kann. Selbst wenn wir keine Möglichkeit haben zu schreiben, können wir trotzdem mit anderen kommunizieren. Unsere Worte haben trotz allem noch Bedeutung. Auch dieser Verantwortung müssen wir uns als Schriftstellerinnen, Journalisten oder Aktivisten bewusst sein, wenn wir echte Reformen anstreben.   

Sie haben Myanmar 1999 nach Ihrer Freilassung aus dem Gefängnis verlassen – war das die bewusste Entscheidung, ins Exil zu gehen? 

Nein, ich habe nie das Exil für mich gewählt. Auch jetzt fühle ich mich nicht als Exilantin, ich bin nur vorübergehend von meinem Land getrennt. Mein Plan ist definitiv, dorthin zurückzukehren. Mittlerweile war ich 20 Monate nicht in Myanmar, der längste Zeitraum, an den ich mich erinnere. In der Vergangenheit war es nie mehr als ein Jahr. Meine Überzeugung ist, dass ich vor Ort sein muss, um Veränderungen zu bewirken. Aus diesem Grund lehne ich auch das Exil für mich ab. 

Welcher Gefahr wären Sie in Myanmar ausgesetzt? 

Jede und jeder in Myanmar ist Risiken ausgesetzt, Ärztinnen und Ärzte, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sogar Kinder. Die Diktatoren lassen vier-, fünfjährige Kinder verhaften, auf deren Eltern sie es eigentlich abgesehen hatten, die aber nicht auffindbar waren.  

Sie sind heute Stipendiatin der Martin Roth-Initiative –inwieweit hilft das Programm Ihnen, das Engagement für Menschenrechte in Myanmar aufrechtzuerhalten? 

Das Programm ermöglicht es mir gegenwärtig, unter friedlichen Bedingungen zu leben, es hilft mir, mich mit anderen Künstlerinnen und Schriftstellern zu vernetzen. Dank des Stipendiums kann ich mir über meine zukünftige Arbeit Gedanken machen und zugleich von anderen lernen. Gegenwärtig schreibe ich an einer Fortsetzung meines Romans »The Roadmap«, den ich 2010 unter dem Pseudonym Suragamika, mutige Reisende, fertig gestellt habe. Es braucht ein Update, auch für meinen Traum für mein Land. Ich weiß nicht, ob ich Myanmar noch als friedvolle, demokratische Gesellschaft erleben werde, aber ganz sicher kämpfe ich dafür Zeit meines Lebens.  

Vielen Dank. 

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 12/2022 – 1/2023.