Gemeinsam mit meiner Frau, die mich seit vier Jahrzehnten begleitet, hegten wir eigentlich einen anderen Traum: den Traum eines kreativen und finanziell abgesicherten Lebensabends in einem kleinen Haus am Ufer der Karibik, auf unserer Insel Margarita, mit dem Tod als einziger Sorge. Ein Ende, dem wir ohne große Ängste entgegengeblickt hätten, mit jenem Seelenfrieden geistiger und materieller Gewissheiten, die wir uns im Laufe des Lebens erarbeitet haben und die – wenn überhaupt – der einzige Vorteil des Alters sind. Das schien nicht zu viel verlangt zu sein.

Die Parabel unserer Existenz hatte keine Zwischenstation in diesem ungewöhnlichen, widersprüchlichen und großartigen Berlin vorgesehen, in dem wir seit nunmehr einem Jahr im Rahmen eines Schutzprogramms der Martin Roth-Initiative und des Ibero-Amerikanischen Instituts leben. Sie sagte auch nichts über den Ort aus, den wir wie abgedriftete Zugvögel erreichen und dauerhaft bewohnen würden – und noch immer kennen wir ihn nicht. Die Realität des Exils wird ihre hässliche Fratze zeigen, wenn wir vielleicht nicht mehr die sind, die wir waren und die wir sein wollten, sondern eine namenlose Zahl in der Statistik der venezolanischen Diaspora. Wir erahnen einen Weg voller unbekannter Ängste, an die wir uns besser schnell gewöhnen sollten, wenn wir ein erfülltes Leben führen wollen. Seltsamerweise, und das gehört zur unbeschreiblichen Conditio humana, ziehen wir es vor, den Preis für diese Ungewissheit zu zahlen. Wir schätzen uns glücklich, Venezuela verlassen zu haben. Wir sind optimistisch. Wir werden frei sein.

Als ich anfing, diesen Artikel über meine Erfahrungen als Migrant zu schreiben, war mein erster Gedanke: Was könnte neu sein an der Geschichte eines älteren Paares, das sich entschlossen hat, sein Land zu verlassen? Denn kurz gesagt sind wir genau das: ein paar Migranten, verdrängt durch ein gefährliches Umfeld, das von einer autoritären Regierung geschaffen und aufrechterhalten wird. Von Autokraten, die seit mehr als 24 Jahren die tolerante Atmosphäre einer einst demokratischen Nation in die Atmosphäre eines Planeten wie der Venus verwandelt haben. Die Luft ist besonders für Akademiker, Intellektuelle, Künstler aller Genres und all jene nicht zu atmen, die andere inspirieren oder die Sehnsucht nach verlorenen Freiheiten wecken könnten. Eine schreckliche Situation, aber keineswegs neu oder selten.

Migrationsprozesse sind ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklung der Menschheit und haben stattgefunden, seit die Nachkommen der »mitochondrialen Eva« in Afrika beschlossen, die Welt zu bereisen und zu bevölkern. Außergewöhnlich werden diese Prozesse erst, wenn sie sich, wie derzeit, massiv ausweiten und Millionen von Menschen hinter den Grenzen anderer Staaten jene Freiheiten und Sicherheiten suchen, die sie in ihrem eigenen Land verloren haben. Für demokratische Regierungen ist es sehr schwierig, sich eines Problems anzunehmen und es in ihren Haushaltsplan aufzunehmen, wenn es von den eigenen Wählern als fremd empfunden und daher mit einem Achselzucken abgetan wird. Es ist für jeden Politiker höchst unbequem, unter solchen Umständen seine Wählerstimmen zu riskieren. Nur sehr wenige tun dies. Das ist die dunkle Seite der Politik. Es ist an so vielen Orten, so viele Male und so vielen Menschen passiert, dass es kaum Neues zu berichten gibt.

Es gibt jedoch eine mögliche und notwendige Erzählung, die von jedem Menschen ausgeht, der gezwungen ist, seine Heimat, seine Angehörigen und seinen Besitz aufzugeben. Eine persönliche Erzählung, die wie ein archäologischer Fund etwas zur großen Menschheitsgeschichte beiträgt. Ich möchte dies anhand der Situation veranschaulichen, die ich am besten kenne: Jeder venezolanische Auswanderer – man schätzt die Zahl auf sieben Millionen – ist ein lebendes Beispiel für eine große Tragödie: die Zerstörung einer Demokratie – wenn auch einer mit großen Mängeln und Verzerrungen, aber dennoch einer Demokratie. Wie der positive Befund einer Biopsie enthält diese Erzählung wertvolle Informationen über das Krebsgeschwür, welches das Rückgrat des zivilisatorischen Paradigmas des Westens zerfrisst: die Demokratie, ihre Werte und ihre Institutionen.

Was in Venezuela geschehen ist, ist so seltsam, dass kein Erklärungsversuch zu viel wäre; und die Beweise dafür gehen, wie gesagt, in die Millionen. Es mag noch zu früh sein, um Schlussfolgerungen zu ziehen, aber vielleicht finden Sozialwissenschaftler irgendwann eine ausführliche Antwort. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät und kann in Form eines Wandgemäldes zum Ausdruck gebracht werden, sodass es jeden Tag sichtbar ist und die Abwehrkräfte gegen die alte Täuschung stärkt. Daraus sollten Lehren gezogen werden, insbesondere für Lateinamerika, wo der populistische Diskurs von links und rechts so viel Schaden angerichtet hat. Es sollte über die Schädlichkeit, die einer Polarisierung des politischen Systems innewohnt, informiert werden. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber ich glaube, dass das Debakel mit ihr begann.

Meine Erzählung beginnt mit der Tatsache, dass ich im nächsten Januar siebzig Jahre alt werde, was für einen Auswanderer vielleicht ungewöhnlich ist. Diejenigen von uns, die zu dieser Altersgruppe gehören, mögen den Gedanken nicht, ein neues Leben zu beginnen. Wir richten unsere Energie lieber darauf, das bereits Gelebte zu einem guten Ende zu bringen. Schon gar nicht, wenn dies in einem anderen Land und in einer anderen Sprache geschehen soll – für viele Dinge ist es einfach zu spät. Vielleicht hätte ich es vor zwanzig Jahren tun sollen, als das diktatorische Regime in meinem Land bereits klare Signale für seine Absichten verlauten ließ. Oder vor zehn Jahren, als der jetzige Autokrat begann, seine auf wirtschaftlicher Ebene zerstörerischen und auf politischer Ebene freiheitsfeindlichen Ideen zu verwirklichen. Aber ich hatte weder den Glauben verloren, noch hatte ich Angst vor dem zunehmend aggressiven Ton des Regimes.

Ich arbeite als Schriftsteller und schreibe darüber hinaus Meinungsartikel für die venezolanischen Digitalmedien im Exil. Jüngstes Beispiel ist »La Gran Aldea«, eine politische Zeitschrift, die im kolumbianischen Bogotá von einer Gruppe junger Journalisten herausgegeben wird. Die überwiegende Mehrheit meiner Schriftstellerkollegen, die Bücher veröffentlicht haben, lebt außerhalb Venezuelas. Die einen, weil sie vom Regime verfolgt werden, die anderen, weil ihre Freiheit erstickt wurde. Medienkontrolle ist Staatspolitik, und diejenigen, die eine freie Meinungsäußerung ermöglichten, sind verschwunden. Die Autoren, auch diejenigen der venezolanischen Digitalmedien im Ausland, müssen sehr vorsichtig sein, denn die Gefahr, ihre Freiheit durch eine Meinung zu verlieren, ist real. In diesem Beruf vorsichtig zu sein nennt man Selbstzensur, und Selbstzensur ist der Sargnagel der Kreativität. Zusätzlich führte die irrsinnige Wirtschaftspolitik des Regimes dazu, dass sich internationale Verlagshäuser aus Venezuela zurückzogen und nationale Verlage sich zwischen Bankrott und Unabhängigkeit entscheiden mussten. Buchläden ohne Bücher schlossen ihre Türen. Als Schriftsteller in Venezuela fehlt es an materieller Unterstützung. Seit Jahren ist es unmöglich, seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben zu verdienen.

Mit diesen Fesseln, die unsere Freiheit ersticken und es Schriftstellern, Intellektuellen und Künstlern sehr schwer machen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ist es dem Regime gelungen, viele von ihnen im Exil loszuwerden. Die internationalen Fernsehsender sind in Venezuela stark eingeschränkt. Nur über die digitalen Netzwerke kann die Bevölkerung von der Arbeit ihrer ausgewanderten Kulturschaffenden erfahren, die in verschiedenen Disziplinen wie Musik, bildender Kunst, Tanz und Theater tätig sind. Doch viele Seiten sind gesperrt, und die Kulturvermittlung in Venezuela ist prekär. Noch besorgniserregender ist die Lage der Künstler, die es – aus welchen Gründen auch immer – vorgezogen haben, im Land zu bleiben und dort zu arbeiten. Internationale Hilfsprogramme, zum Beispiel in Form von digitalen Medien, Ausstellungen und Buchmessen, die aus dem Ausland finanziert und vor Ort durchgeführt werden, könnten Künstlern effizient helfen. Ich glaube, dass jeder in Venezuela investierte Euro dem Zweck dient, die Kultur eines unterdrückten Volkes zu erhalten und zu fördern.

Mein Aufenthalt in Berlin war wunderbar, und ich konnte dort meinen fünften Roman fertigstellen – die fehlende Hälfte, etwa 200 Seiten, habe ich hier geschrieben. Zurzeit beschäftige ich mich mit dem Korrektorat und Lektorat des Manuskripts. Ich hoffe, dass es vor meiner Abreise druckreif sein wird. Außerdem hoffe ich, meinen Roman »Die andere Insel«, der bereits ins Deutsche übersetzt wurde, bei einem anderen Verlag veröffentlichen zu können. Um meine Recherchen zu vervollständigen, habe ich Madrid besucht und erhielt von einer Agentur dort einen Vertrag zur Vermarktung meiner Werke in Spanien. Zurück in Deutschland hatte ich die Gelegenheit, mit Studenten der Universität Rostock über Venezuela und seine Literatur zu sprechen.

Das wichtigste Ereignis jedoch fand im Sommer statt: ein Baseballspiel zwischen Menschen aus der Karibik, hauptsächlich Venezolanern. Es war ein brüderliches Erlebnis, das sich abgesehen vom Spiel auch um Familie drehte, um die Kinder, ums Essen und ums Trinken, um Musik und um improvisierte Tänze. Eine Atmosphäre der Harmonie und Freude, die in Venezuela aufgrund politischer Polarisierung zerstört wurde. Ich fand es großartig zu sehen, wie diese Atmosphäre in Berlin wiederbelebt wurde – der Stadt, in der bereits so viele Hoffnungen wiederbelebt wurden.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 04/2023.