Zunehmend bestimmen Katastrophenmeldungen die Weltnachrichten: kriegerische Auseinandersetzungen, Terroranschläge, Flucht und Vertreibung, Klimakatastrophen, Pandemien. Die Welt ist in Unordnung. Da kommt ein kleines Land in Südostasien in den Blickpunkt, das wie ein Gegenentwurf wirkt: Singapur, ein Stadtstaat etwa so groß wie Hamburg, mit knapp 6 Millionen Einwohnern, mit einer multiethnischen Bevölkerung, zu drei Viertel Chinesen, 14 Prozent Malaien, 8 Prozent Inder und 2 Prozent Sonstige. Es wird darauf geachtet, dass der soziale Zusammenhalt einerseits und der Schutz der multiethnischen und multireligiösen Teile andererseits in einem austarierten Verhältnis gewährleistet ist. Die Festlegungen werden teilweise auch im Wohnungsbau durch ethnische Gruppenquoten getroffen. Jede Bedrohung dieses Friedens wird drastisch geahndet. Es herrscht ein staatlich verordnetes strenges Antidiskriminierungsregime.
Innerhalb einer Generation schaffte Singapur den Sprung vom Entwicklungsland zu einer der führenden Industrienationen. In Singapur besteht faktisch ein informeller Gesellschaftsvertrag: Die Bevölkerung akzeptiert ein streng reglementiertes Rechtssystem, strenge Gesetze, einen hohen Grad der Überwachung, von Demokratie westlicher Prägung ist die autoritäre Regierung weit entfernt. Dafür sorgt die Regierung für allgemeinen Wohlstand, bezahlbaren Wohnraum, eine Altersvorsorge und eine einwandfrei funktionierende Infrastruktur. Die U-Bahn kommt im Zwei-Minuten-Takt, seit 2018 hat Singapur das Autowachstum beendet. Nur wenn ein Fahrzeug stillgelegt wird, darf ein neues angemeldet werden. Trotz der intensiven baulichen Verdichtung bestimmen nicht die Beton-Stahl-Gebäudekonstruktionen das Bild, sondern die ungewöhnliche Stadtbegrünung, sowohl mit ausgedehnten tropischen Gärten als auch mit Vertikalgärten an den Hochhäusern und Dächern. Jeder Bauträger muss genau so viel Fläche begrünen, wie er bebaut. Die Regierung kann anordnen, ohne Rücksicht auf Einsprüche nehmen zu müssen. Der Erfolg und die Stabilität des Gesellschaftssystems fußt auf dem Bedürfnis nach »Convenience«. Die klimatisierte Nation bedeutet die ideal eingestellte Raumtemperatur, die ein Leben in den Tropen bequem und annehmbar macht, real und im übertragenen Sinn. Zugleich ist es die notwendige Kondition des Finanzkapitalismus und einer florierenden Marktwirtschaft, die den Reichtum des Landes sicherstellen soll. Singapur hat sich als stabiles Finanzzentrum positioniert. Für deutsche Unternehmen hat sich der Stadtstaat als Tor nach Asien etabliert. Mehr als 2.100 deutsche Unternehmen sind in Singapur registriert. Staatsbesuche wie jüngst vom deutschen Bundespräsidenten und Bundeskanzler unterstreichen die wirtschaftliche Wertigkeit.

Singapur investiert einen erheblichen Anteil seines Bruttoinlandsprodukts in Forschung, Entwicklung und Bildung. Die Schulen gelten als außerordentlich leistungsfähig, ausgestattet mit modernster Informations-und Kommunikationstechnologie. In Singapur haben sich die besten Universitäten angesiedelt mit massiver staatlicher Förderung und mit wenig Berührungsängsten zum Markt und zur Ökonomie. Typisch für die gesellschaftliche Prägung ist die Kommodifizierung vieler Lebensbereiche. Der Begriff bezeichnet den Prozess der Kommerzialisierung bzw. des »Zur-Ware-Werdens«. Alles wird dem Nützlichen untergeordnet. Auch für die Erfolgsbemessung von Bildung und Forschung, sogar für Kunst und Kultur gelten quantitative Kategorien. Kreativität und Innovation fallen dann oft zurück. Der ökonomische Dauerstress stellt viele Kulturschaffende vor enorme Herausforderungen. Zwar stellt die staatliche Kulturbehörde umfangreiche Fördermittel zur Verfügung, sie sind aber mit politischen Abhängigkeiten versehen. Es gibt wenig Hemmungen der Politik, über Fördersysteme auf Inhalte zuzugreifen. Druckmedien, Fernsehen und Radio sind staatlich kontrolliert, private Satellitenschüsseln sind verboten, Pressefreiheit existiert nicht. Es herrscht eine strenge Zensur.

Die Kulturförderung durch das National Arts Council (NAC) ist umfangreich, um nicht zu sagen monopolisiert. Vom Zuschauer und Unterstützer hat sich die Rolle gewandelt zum Moderator, Unterdrücker und Zensor. Es gibt nur wenige private Kulturfördereinrichtungen. Der staatlich geförderte und institutionalisierte Kultursektor ist üppig ausgestattet. Er ist strukturiert in Fünfjahresplänen, die geprägt sind von Regulierung und Überwachung durch die Regierung. Das finanzielle Engagement wird bevorzugt eingesetzt für Programme mit hohen Zuschauerzahlen. Das führt zwangsläufig zu Mainstream, Blockbuster und Lifestyle und weniger zu kultureller Kompetenz. Zu den Trends, die die Regierung in den letzten zehn Jahren verfolgte, gehören die Stärkung eines Kunstmarktes und einer Sammlerbasis, experimentelle Forschung und ein institutioneller Fokus auf südasiatischer Kunst sowie der Aufbau einer spezifischen Bildungsinfrastruktur. Die National Gallery kauft auf der ganzen Welt Kunstwerke an, vornehmlich aber in Südostasien, um einen Kanon für asiatische Kunst aufzubauen. Der aktuelle Trend fokussiert sich auf digitale Medien und interaktive Kunst. Viele kleinere Einrichtungen mussten aufgrund des ökonomischen Drucks schließen, auch für die Freie Szene insgesamt ist es wegen der ungleichen finanziellen Ressourcen sehr schwierig. Aber trotz der Erschwernisse und der staatlichen Zensur gibt es hinter der glitzernden Fassade noch kritische und differenzierte Stimmen, die sich mit eigenem innovativem Ausdruck äußern. Dazu gehören Künstler wie Charles Lim, dessen Arbeiten 2021 in der Ausstellung »Nation, Narration, Narcosis« im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen waren, der in hoch ästhetisierten Filmen den ökologischen Raubbau an Singapurs Küsten dokumentiert, oder Ming Wong, dessen theatralisch-filmische Arbeiten sich um gesellschaftliche Normative, Geschlechterrollen und Genderhybridität drehen. Er war jetzt mit seiner neuesten Produktion »Rhapsody in Yellow« im Haus der Berliner Festspiele zu sehen. In einer überzeichneten Performance anhand eines Klavierwettbewerbs und eines Tischtennisturniers erzählt er von der chinesisch-amerikanischen Ping-Pong-Diplomatie als nationaler Abgrenzungsideologie.

Lange Zeit hat es Singapur nicht geschafft, eine international bedeutende Kunstmesse zu etablieren. Mit dem Niedergang Hongkongs auf diesem Gebiet konnte Singapur Mitte Januar mit der ersten Ausgabe der ART SG glänzen. Mit 160 teilnehmenden Galerien und mehr als 42.000 Besuchern erreichte man gleich den internationalen Spitzenplatz. Die nächste Ausgabe ist bereits für 2024 angekündigt. Für Singapur spricht das große Einzugsgebiet Südostasien. Mit fast 700 Millionen Einwohnern ist es etwa so groß wie Europa. Aber auch bei dieser Messe der Gegenwartskunst prägt der Kommerz das Profil. Kunst soll die heitere Weltsicht vermitteln, nicht provozieren, nicht kritisieren. Kunst als sensible Sonde und lebendige Komponente für den gesellschaftlichen Diskurs – Fehlanzeige.

Der derzeitige Wohlfühleffekt der persönlichen Lebensumstände Singapurs beruht auf dem erreichten materiellen Wohlstand. Erkauft wird er durch die konsequente Verpflichtung, alle Lebensbereiche nach den Prinzipien des marktwirtschaftlichen Systems zu organisieren und zu bewerten. Alles hat sich dem Nützlichen und Gewinnbringenden unterzuordnen. Alles, was diese Auffassung stört, wird durch strenge Verhaltensregeln, durch Überwachung und Zensur, durch harte Strafen bei Regelverletzungen gesteuert. Dieser umfassende Funktionalismus mit seiner ausschließlichen materialistischen Gewinnorientierung beschneidet die menschlichen Entscheidungsmöglichkeiten, verhindert kreative Alternativen und hält die Menschen in einer absichtlichen Unmündigkeit. Es führt zu einer Kolonisierung der Lebenswelten. Alles hängt ab vom quantitativen Erfolg des Investments. Ist dieser nicht mehr gegeben, so besteht die deutliche Gefahr der gesellschaftlichen Instabilität. Eigenverantwortung und freiheitliches Gestalten sind nicht eingeübt. Singapurs Gesellschaftssystem mag aufgrund seines derzeitigen Wohlstands attraktiv sein, ein Modell im Sinn von gesellschaftlicher Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ist es nicht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 05/2023.