Durch die zunehmende Verbreitung verschiedener Anwendungen Künstlicher Intelligenz wird gegenwärtig viel über deren Auswirkungen in der Zukunft spekuliert. Die Frage ist, was eine gute oder vielleicht notwendige Fähigkeit im Umgang mit KI ist, aber auch generell im Umgang mit Bildern, die mit realistischer Darstellung arbeiten. Es geht um Bildkompetenz: ein Begriff, der das Sehen in den Vordergrund stellt.
Seit den frühen Tagen der Fotografie wird dieses Medium eingesetzt, um auf der Basis einer Wirklichkeitsbehauptung andere Menschen zu manipulieren. Dabei gibt es zwischen der Fotografie und der Verwendung von Sprache in Wort und Schrift einen grundlegenden Unterschied: Steht hier Rede neben Gegenrede, so ist das Widersprechen oder Vorbringen von Einwänden im visuellen Bereich den meisten Menschen kaum möglich. Allein das Erkennen von Manipulationsversuchen bedarf einer gewissen Kenntnis und Erfahrung mit realistischen Bildern. Erschwerend kommt hinzu, dass zum Beispiel dem Medium Fotografie unterstellt wird, sie bilde die Realität ab.
Das arglose, milliardenfache tägliche Hinzufügen neuer Fotografien auf den jährlich massiv wachsenden weltweiten Speichern zeigt scheinbar Authentisches. Und die Mobiltelefon-Tools, ob eingebaut oder zusätzlich installiert, machen die neuen Beweisfotos dafür, an der eigenen Geschichte teilgenommen zu haben, doch nur besser. Oder hübscher. Oder klarer. Oder mit größeren Augen oder ohne Pickel. Kurz: zu etwas Anderem. Doch »das Andere« beginnt selbstverständlich schon beim Auftrag an die Maschine, ein Lichtbild zu schreiben. Ob analog auf Film, oder digital auf ein Speichermedium.
Aber warum unterstellen wir den Abbildungen auf einer Nachrichtenseite mehr Wahrheit als der Ansichtskarte, deren einkopierten Himmel mit Schäfchenwolken wir schmunzelnd zur Kenntnis nehmen? Und hier sicherlich nie auf die Idee kämen, dass es am gezeigten Ort wirklich so ausgesehen hat.
Bei professioneller Verwendung von Fotografien für Werbung oder Propaganda wird gerne der Glaube ans Abbild benutzt, um Behauptungen aus der Art und Weise der Darstellung abzuleiten bzw. zu untermauern. Sehr oft geschieht dies in Verbindung mit Sprache, die die Bildebene mit Worten kontextualisiert und im Anschluss als visuellen Beweis benutzt. Eine simple, aber perfide Strategie, die schon lange angewandt wird.
Die analoge Retusche wurde bereits sehr früh perfektioniert. In größerem Umfang erschien die Retusche mit dem Aufkommen der digitalen Bildbearbeitung. Der durch die Verwendung Künstlicher Intelligenz rasant zunehmende Griff in die riesigen Datenbanken mit Millionen relevanter Bilddatensätze inklusive ihrer versprachlichten Bedeutungsebenen setzt nun mit permanent steigender Rechenleistung fort, was sich bereits seit den Anfängen des Mediums Fotografie abzeichnete: Ein »realistisches Bild« ist eine Behauptung. Was eine solche »Bildbehauptung« mit der echten Welt zu tun hat, müssen wir in erster Linie zu sehen lernen. Allein schon das Wissen um diese Notwendigkeit stellt dann vielleicht die dem Bild hinzugefügte Sprache infrage! Wenn dadurch das Bild nicht mehr einfach »Beweis« oder »News« sein kann, wird es in diesem Bereich auch keine Fake-News geben können. Bildkompetenz macht’s möglich.
Sehr viele bildende Künstlerinnen und Künstler arbeiten und forschen über die Möglichkeiten und Wirkungen von Bildern. Schon in der Hochschulausbildung gehört dies oft zu den Standards. Wir verfügen im Land über ein großes Potenzial an Menschen, die im nichtsprachlichen Bereich hochqualifiziert sind. Und wie es bei Forschenden üblich ist, werden gewonnene Erkenntnisse oder Vermutungen mit neuen Werkzeugen gerne überprüft und erweitert. Vielleicht dürfen wir von Künstlerinnen und Künstlern auch erwarten, dass sie uns als Zeitgenossen Hilfestellung und Orientierung im schwierigen Feld des Sehens geben. Diese Fähigkeit, die Kunst des Sehens zu vermitteln, sollte die Gesellschaft gerade angesichts der Überflutung mit Produkten der Künstlichen Intelligenz nutzen.
Wie die vorliegende Studie »KI und bildende Kunst« zeigt, ist zu befürchten, dass ab jetzt ein wachsender Teil der Einkünfte von Künstlerinnen und Künstlern durch maschinelle Weiterverarbeitung ihrer Arbeiten entfallen könnte. Da damit jedoch anderswo Geld verdient wird, muss folgerichtig die Nutzung dieser Verwendung vergütet werden. In der Studie sprechen sich 92 Prozent der Künstlerinnen und Künstler im Zusammenhang mit KI dafür aus. Es ist zu hoffen und auch zu vermuten, dass eine solche Forderung leicht nachvollziehbar ist und mehrheitlich als unterstützenswert angesehen wird. Allein die Suche nach einer Lösung erfordert aktives Handeln auf sehr unterschiedlichen Ebenen, bei dem politischer Wille auch zu politischem Handeln werden muss.
Eine große Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern im Land lebt schon heute in weniger als bescheidenen Verhältnissen, in ständiger Selbstausbeutung und ist oft gezwungen, zusätzliche Einkünfte aus berufsfremder Arbeit zu generieren. Die sich daraus ergebende Frage darf nicht lauten, ob sich unsere Gesellschaft eine bessere Unterstützung der bildenden Künstlerinnen und Künstler leisten kann, sondern ob sie es sich leisten kann, sie nicht zu unterstützen.