Auf den Friedhöfen der Heimatstadt lässt sich im fortgeschrittenen Alter auf den Spuren des eigenen Lebens wandeln: Auf den Grabsteinen wecken die Namen von Verstorbenen Erinnerungen, ob an einen netten Nachbarn oder eine prägende Lehrerin, einen viel zu früh verstorbenen Freund oder einen geliebten Verwandten. Der Besuch eines solchen Friedhofs spiegelt so Stationen der eigenen Lebensgeschichte und damit auch der eigenen Identität. Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die Gesellschaft. Unsere Friedhöfe sind die lebendigen, sich stets selbst fortschreibenden Geschichtsbücher unserer Dörfer, unserer Städte, unseres Landes. Als geschützte Gedächtnislandschaften halten sie die Erinnerung an bedeutende Menschen und ihre Leistungen wach, spiegeln unsere Historie und bilden so Säulen unserer nationalen Identität.

Das gilt besonders für die 40 Friedhöfe in Bonn. Hier bleiben nicht nur die Namen von Persönlichkeiten der Stadtgeschichte im Gedächtnis, sondern auch die des Landes Nordrhein-Westfalen und natürlich auch der Bundesrepublik Deutschland. Dabei sticht der Alte Friedhof in der Innenstadt als einer der bedeutendsten und sicher auch als einer der schönsten des Landes heraus.

Mit dem alten Baumbestand, den vielen steinalten Grabanlangen und den verwinkelten Wegen lädt die gut 3.000 Quadratmeter große Ruheoase förmlich zu einer historischen Entdeckungsreise ein. Das beginnt bei den zehn Grabkreuzen aus der Gründungszeit des Friedhofs zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die rund um die bemerkenswerte, mittig gelegene Georgskapelle aufgestellt wurden. Dieser aus dem 13. Jahrhundert stammende Sakralbau des Deutschordens wurde im 19. Jahrhunderts aus dem nahe gelegenen Ramersdorf transloziert und auf dem Alten Friedhof wieder weitestgehend originalgetreu aufgebaut. Eingeweiht wurde die Kapelle dort 1850, zu einer Zeit also, als dieser Friedhof sein heutiges Gesicht erhielt. Das gilt sogar für den Baumbestand: Die riesigen Platanen rund um die Kapelle wurden vermutlich bereits 1821 gepflanzt. Und eines der beeindruckendsten Gehölze, die sogenannte »Arndt Eiche«, erinnert an einen gleichnamigen Jungen, der im Alter von neun Jahren 1834 bei einem Unglück im Rhein ertrank.

Der Blick auf die Stadtgeschichte reicht auf dem Friedhof bis in die kurfürstliche Zeit des 18. Jahrhunderts zurück. An sie erinnern hier ebenfalls aufgestellte Epitaphe wie das Gedächtnismal eines Beamten, der 1745 verstarb. Doch die Mehrzahl der sehenswerten historischen Grabmäler stammt aus dem 19. Jahrhundert, allen voran das wohl größte und berühmteste: das Denkmal von Robert und Clara Schumann. Es wurde »dem grossen Tondichter von seinen Freunden und Verehrern« am 2. Mai 1880 errichtet, wie auf dem Sockel des von Adolf Donndorf geschaffenen Kunstwerks zu lesen ist. Die Schumanns stechen dabei aus den letzten Ruhstädten vieler weiterer Künstlerinnen und Künstler, Professorinnen und Professoren sowie anderen Geistesgrößen heraus, die hier im 19. und frühen 20. Jahrhundert beigesetzt wurden.

Aber damit endet die Zeitreise auf dem Alten Bonner Friedhof nicht – im Gegenteil, sie wird – wie auf allen Bonner Friedhöfen – erst mit der Nachkriegszeit richtig spannend. So ist beispielsweise die Bonner Stadt- und Bundesgeschichte eng mit Hermann Wandersleb verbunden, dessen Ehrengrab man hier findet. Den Bundesbeamten unter Konrad Adenauer nannte man »Bonnifacius«, den »Bonn-Macher«, weil er maßgeblich dafür sorgte, dass Bonn Bundeshauptstadt wurde. Im Schatten der Georgskapelle finden sich die Grabstätten zweier weiterer prägender Persönlichkeiten: So hat hier Mildred Scheel, die Begründerin der Deutschen Krebshilfe, ihre letzte Ruhestätte gefunden. Und nur wenige Meter entfernt findet sich das schlichte, fast unauffällige Grab von Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm.

Auch wenn nur wenige der vielen bekannten und wichtigen Persönlichkeiten, die in dieser Stadt nach 1945 Geschichte schrieben, dort auch begraben wurden, so bilden die Bonner Friedhöfe doch eine nationale Gedächtnislandschaft, und das nicht nur auf dem Alten Friedhof, sondern beispielsweise auch auf dem viel jüngeren Südfriedhof. Hier finden sich unter anderen die Gräber von Erich Ollenhauer, dem langjährigen SPD-Parteivorsitzenden, oder von Annemarie Renger, der ersten Präsidentin des Deutschen Bundestags.

Wenn man hierzulande von Erinnerungskultur spricht, hat man zumeist die Opfer der Schattenseite unserer Geschichte im mahnenden Blick. Das ist, wie sich gerade deutlich zeigt, unabdingbar wichtig. Die Bonner Friedhöfe aber veranschaulichen, dass auch ein positiver Blick zurück auf die großartigen Leistungen vieler prägender Persönlichkeiten unseres Landes möglich ist – und es sicherlich der öffentlichen Erinnerungskultur gut anstünde, diese Menschen miteinzubeziehen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.