Die Mendelssohn-Gesellschaft erinnert rund um den Berliner Gendarmenmarkt durch Konzerte, Vorträge, Diskussionen, Ausstellungen und Führungen an eine der bedeutendsten deutschen Familien und erforscht diese zugleich. Doch die Finanzierung des gemeinnützigen Vereins ist gefährdet. Theresa Brüheim spricht mit dem stellvertretenden Vorsitzenden Thomas Lackmann.

Theresa Brüheim: Herr Lackmann, wir treffen uns heute in der Berliner Jägerstraße am Gendarmenmarkt. Welche historische Bedeutung hat dieser Ort im Hinblick auf die Familie Mendelssohn?

Thomas Lackmann: Wir befinden uns in einer ehemaligen Kassenhalle, die Teil des früheren Stammhauses der Mendelssohn-Bank war. Die Bankierssöhne des Philosophen Moses Mendelssohn sind hier 1815 mit ihrer jungen Firma eingezogen, zwischen zwei preußische Staatsbanken. Die Bedeutung der Mendelssohn-Kaufleute für die deutsche Wirtschaftsgeschichte nahm hier ihren Anfang: Die Bank expandierte zur zeitweise größten deutschen Privatbank. Hier war die Keimzelle des Berliner Bankenviertels.

Die Friedrichstadt wird von uns »Quartier der neuen Zeit« genannt: Da kommt vieles zusammen, das Aufklärung, Neuzeit, Moderne ausmacht: das Bankenwesen, später viele Medienunternehmen, Verlage, schließlich das Berliner Zeitungsviertel und auch Luxusgeschäfte und Kulturinstitutionen wie das Schauspielhaus. Die moderne Karree-Planung der Friedrichstadt, die ja bereits Anfang des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, unterschied sich schon durch ihre Geometrie vom alten Berlin. Die Mendelssohns kann man als eine Familie sehen, die eine Brückenfunktion hatte: traditionsbewusst, aber offen für Fortschritt.

Der Ort gilt als einer der am besten erhaltenen Mendelssohn-Erinnerungsorte in Berlin.

Das Stammhaus Jägerstraße 51 von ca. 1790 war bis zum Zweiten Weltkrieg zweistöckig. Danach war es teilweise zerstört, wurde zu DDR-Zeiten aufgestockt. Dadurch hat es seine klassischen Proportionen verloren. Es steht aber unter Denkmalschutz: der Ort, an dem sich von 1815 bis zu seiner »Arisierung« 1938 das Bankhaus der Mendelssohns befand.

Die Häuserreihe von Nr.49/50 bis Nr. 53 ist insgesamt ein Erinnerungsort. Vier Wohn- und Geschäftshäuser nebeneinander gehörten den Mendelssohns. Davon stehen noch Nr. 51, und Haus 49/50 nebenan. 2002 haben wir, einige Anwohner und weitere interessierte Bürger, hier die Initiative »Geschichtsforum Jägerstraße« gestartet, die Mendelssohn-Gesellschaft führt das Projekt bis heute weiter. Die Idee war, die Jägerstraße als »Mendelssohn-Ort« zu entdecken, zu erforschen und zu bespielen. So kamen wir auf die Mendelssohn-Remise im Hinterhof von Haus Nr. 51. 2004 hatten die Jüdischen Kulturtage das Thema »Mendelssohn & Company«. Dafür wurde zur Entdeckung der Bankiersgeschichte in der Jägerstraße eine auf vier Wochen angelegte Ausstellung eingerichtet. Anderthalb Jahre und einen Antrag bei der Lotto-Stiftung später wurde daraus eine Dauerausstellung. Diese entwickelt und verdichtet sich seitdem: Wir haben dafür viele Leihgaben und Schenkungen bekommen, vor allem aus der Mendelssohn-Familie.

Heute sitzt hier die Mendelssohn-Gesellschaft. Wie ist diese entstanden? Welche Aufgaben und Ziele hat sie?

Sie wurde 1967 gegründet. Ihr Ziel ist es, Objekte und Dokumente zur Geschichte der Nachkommen Moses Mendelssohns zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen. Nicht nur zu Moses, Felix, Fanny Hensel, den Stars der Familie, sondern auch zu weniger bekannten Bankiers, Künstlern, Gelehrten und sonstigen Normalmenschen: als Mikrokosmos der deutsch-jüdischen Geschichte. Zunächst war diese Erforschung im wissenschaftlichen Umfeld der Staatsbibliothek erfolgt. Bis heute wird eine Publikationsreihe herausgegeben, die alle zwei Jahre Aufsätze zu dem breit gefächerten Themenfeld veröffentlicht, die Mendelssohn-Studien.

Mit der Remise konnten wir nun eine Öffentlichkeit erreichen, die über die Wissenschaft hinausgeht. Mit einem großen ehrenamtlichen Team organisieren wir vor Ort Konzerte, Vorträge, Diskussionen, Lesungen oder Stadtführungen. Die Remise ist unser Schaufenster nach außen.

Lassen Sie uns einen Exkurs zur hier gezeigten Ausstellung machen: Was gibt es zu sehen?

Der Titel ist ja: »Die Mendelssohns in der Jägerstraße«. Es geht also um das Viertel als Keimzelle des Berliner Bankenviertels; um die Bankiers, ihre Häuser und Geschäfte, auch um weibliche Familienmitglieder … Einerseits waren die Mendelssohns ja eine patriarchalische Familie, aber es gab das sogenannte »Ministerium des Inneren«. Das waren ihre einflussreichen Frauen, die oft in die Familie eingeheiratet hatten und für viele Sozialkontakte, für das Netzwerk der bürgerlichen Verantwortung sorgten. Es werden die drei ersten Generationen der Bankiersfrauen herausgestellt, die an der Seite ihrer Ehemänner die »Geselligkeit« organisierten.

Außerdem werden »Gegenwelten« in der Ausstellung gezeigt: Die Mendelssohn-Bankiers hatten später Sommervillen vor der Stadt, in Grunewald, in Charlottenburg, in Börnicke. Ein Exkurs behandelt die Frage nach der »Religion der Mendelssohns«. Es wird auch an die Liquidation der Bank 1938 erinnert, das steht aber nicht im Mittelpunkt. Natürlich ist diese Geschichte mit jüdischer Geschichte, also mit dem »Dritten Reich« und der Shoah, verbunden. Aber mehr als 200 Jahre waren von vielen anderen starken, positiven Themen geprägt. Als bürgerliche Dynastie oder großbürgerlicher Clan hat wohl keine andere Familie in so vielen unterschiedlichen Bereichen über so viele Generationen in die deutsche Geschichte hineingewirkt – länger als die Manns oder die Wagners: von der Aufklärung bis zur Friedensforschung bis zur Entwicklung des Bankenwesens und der Bezahlungssysteme, von der Musik und der Kunst bis zur Chemieindustrie. Betrachtet man die Nachfahren, von denen die meisten heute nicht in Deutschland leben, lässt sich anhand der Nachkommenschaft des Moses bis heute auch Integrations-, Assimilations- und Emigrationsgeschichte erzählen. Also Zeitgeschichte, deutsche Geschichte, deutsch-jüdische Geschichte und Kulturgeschichte.

Als aktuelle Aufgabe hat die Mendelssohn-Gesellschaft unter anderem bürgerliche Verantwortung definiert. Was verstehen Sie konkret darunter? Wie kann dies in den aktuellen Zeiten mit Leben gefüllt werden?

Das Vermächtnis, von dem die Bankiers inspiriert waren, war das Aufklärungsideal Moses Mendelssohns. Dazu gehörte gesellschaftliche Verantwortung, besonders der Dialog, das Aushalten anderer Meinungen und die Verantwortung des Bürgers. Obwohl Moses Mendelssohn keine Bürgerrechte hatte und im Alltag Diskriminierung erlebte.

Über Generationen hinweg zeigt sich in der Familie Engagement für Kunst, Wissenschaft, Pädagogik und Soziales. Das verweist vielleicht auf eine Verwurzelung in der Verpflichtung, die das Judentum »Zedaka« nennt. Für die Mendelssohn-Gesellschaft gehört z. B. dazu, dass Nachwuchsmusiker, die ja von den Bankiers oft gefördert wurden, in der Remise spielen können. Ebenso gehört dazu der ehrenamtliche Einsatz vieler Engagierter, um Geschichte weiterzugeben und Verantwortung für Geschichte zu übernehmen. Indem Themen der Aufklärung und dem Dialog ein Forum gegeben wird.

Mit dem Thema bürgerliche Verantwortung ist auch der Kranich verknüpft.

Mit diesem »Ich wach«-Kranich, dem Emblem unseres Vereins, hat es Folgendes auf sich: Der Gründungsbankier Joseph Mendelssohn schrieb an einen Kunden, den Philosophen Schopenhauer, in den 1830er Jahren, er habe den Kranich mit dem Stein als Siegeltier gewählt. Das Motiv hat sich dann in der Bank und einigen Familienzweigen durchgesetzt. Es findet sich auf Grabsteinen, in Treppenhäusern, Fenstern, Briefköpfen oder eingebrannt in große Ledersessel. Dahinter steht eine antike Legende, die besagt, dass die Kraniche abends eine Wache aufstellen. Der Wachkranich hat in der Kralle einen Stein. Schläft er ein, fällt der Stein, und der Kranich schreckt hoch. Aufgrund dieser Legende wird der Kranich zum Symbol für Verantwortung und Caritas. Das »Ich wach« ist für uns auch ein politischer Impuls.

Ihr Mietvertrag in der Jägerstraße wird zu den bisherigen Konditionen Ende des Jahres auslaufen. Wie ist die aktuelle Situation?

Die Finanzierung war immer knapp. Wir zahlen bereits eine hohe Miete, die künftig kaum wie bisher zusammenzubringen ist. Der jetzige Vertrag läuft Ende 2024 aus. Zugleich hat sich ein Sponsor, der für einen Kooperationspartner eine Reihe regelmäßiger Vorträge in der Remise finanzierte, zurückgezogen. Beides zugleich schafft eine zu große Lücke, die ohne Hilfe nicht mehr zu schließen ist. Wir haben immer wieder Gespräche mit Institutionen wie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie dem Berliner Senat geführt. Die Rückmeldung ist immer ähnlich: Es gibt offenbar keinen passenden Finanzierungstopf für uns.

Wie kann man jetzt unterstützen?

Das Interesse der Öffentlichkeit ist ermutigend. Das Publikum kommt im terminüberfluteten Berlin zu uns, die Leute lieben es hier und kommen wieder. Natürlich können Spenden helfen. Aber Einzelspenden werden dieses konkrete Problem nicht lösen. Bei solch großen Lücken können wir nicht von der Hand in den Mund agieren. Deswegen wäre das Entscheidende, dass Vertreter staatlicher Institutionen das Bewusstsein entwickeln, dass das Mendelssohn-Thema kein Kiez-Thema ist. Hamburg hat ein Mendelssohn-Museum, Leipzig hat eines – und in Berlin soll es keines mehr geben? Hier hat sich ohne großes Budget ein vielfältiges, buntes und interessantes Programm entwickelt. Ist es plausibel, das nach 20 Jahren eingehen zu lassen? Natürlich sind die Zeiten hart, es wird vielerorts gespart. Meine Bitte ist an die Politik und Entscheidungsträger: Evaluiert richtig!

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.