In meinem Familien- und Freundeskreis befinden sich auffällig viele Lehrerinnen und Lehrer. Der Beruf ist mir bis heute nah. Fast hätte ich ihn selbst ergriffen. Doch in der DDR fand ich es eher schwierig, Lehrerin zu sein. Wer es schaffte und trotzdem bei sich blieb, den bewunderte ich. Ende der 1980er Jahre galt meine besondere Achtung dem Deutschlehrer meiner Tochter, dem der Spagat gelang, drei Gruppen ganz unterschiedlicher Eltern und deren 14-jährige Kinder unter einen Hut zu bringen. Einige dieser Eltern engagierten sich in der Kirche, andere sorgten sich aktiv um die Sicherheit des Staates und die weniger aktiven Eltern bewunderten den spürbaren Balanceakt des Lehrers, der für gute Klassenstimmung und freundschaftliches Miteinander sorgte. Nach 1989 verloren wir uns aus den Augen. Am ersten Silvesterabend des geeinten Deutschlands hatte er den Freitod gewählt.

Die Kultusministerkonferenz verkündete im Februar dieses Jahres, es fehlen bis 2025 rund 25.000 Lehrkräfte. Das bedeutet laut einer Umfrage des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) 12.341 unbesetzte Stellen. Eigentlich macht die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten, den Beruf doch attraktiv und könnte verhindern, dass Lehrkräfte sich durch viele zusätzliche Aufgaben überlastet fühlen und den Beruf vorzeitig verlassen. Die Praxis hingegen zeigt seit Langem laut Bundesamt für Statistik (BfS), dass Absolventen der pädagogischen Hochschulen oft nicht einmal ein Jahr unterrichten: 17,1 Prozent der Lehrpersonen stiegen zwischen den Jahren 2010 und 2011 noch im ersten Berufsjahr aus. Woher kommt diese Flucht? Herrscht in der Gesellschaft ein verzerrtes Lehrerbild? Wird zu viel über schlechte und zu wenig über gute Lehrerinnen und Lehrer geredet? Die Literatur erzählt vom besonderen Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern. Wer erinnert sich nicht an die Pauker Crey, genannt Schnauz, Bömmel und den Direktor Knauer in Heinrich Spoerls »Die Feuerzangenbowle«, die der berühmt unrühmliche »Schüler« Johannes Pfeiffer (mit drei f) unnachahmlich ins Bild setzte. Allerdings zeigt Belletristik des vergangenen Jahrhunderts die Schule nicht selten als einen Ort der Demütigung und des damit verbundenen Versagens der Schülerinnen und Schüler. Hätte man Thomas Manns Lehrern gesagt, dass ihr Schüler einmal den Literaturnobelpreis gewinnen würde, sie hätten ungläubig gelacht. Die Schule konnte er nicht ausstehen und blieb dreimal sitzen. Wohl auch deshalb kommt sie nicht gut weg, in den »Buddenbrooks«. In diesem Jahrhundertroman sind die Lehrer grausame oder lächerliche Vernichter der Kindheit. Gänzlich anders schaut der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss in seiner 2018 erschienenen Essaysammlung »Stil und Moral« auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis in seiner »Ode an die Lehrer«: »Ich hasste die Schule / Aber ich liebte meine Lehrer / Das ist etwas seltsam, ich weiß / Aber grundsätzlich kein Widerspruch / Ich brauchte keinen Stundenplan / Ich brauchte keinen Lehrplan / Ich brauchte keine Pulte / Ich brauchte keine Prüfungen / Was ich hingegen nötig hatte / das waren Lehrer (…) Kinder brauchen keine Schule / Aber sie brauchen Lehrer (…,) die ihnen zeigen / wie das gehen könnte/ dieses Spiel / ein Mensch zu werden.« Wenige Seiten später in der »Ode an die Schüler« redet er dem Eigentlichen, nämlich dem Besonderen jedes Schülers das Wort: »Zu der eigenen Einzigartigkeit zu stehen / ist alles andere als einfach / Zu den eigenen Gefühlen / Zu den eigenen Fähigkeiten / Zu einer eigenen, einzigartigen Meinung / Vielleicht haben Sie es schon erlebt / wie schwierig es sein kann / bei seiner eigenen Meinung zu bleiben / wenn zum Beispiel die ganze Klasse eine andere vertritt.«

Nach meiner Bärfuss-Lektüre fragte ich eine Leipziger Schulleiterin – mit Blick auf ihr Kollegium –, was eine gute Lehrkraft ausmache. »Ein Einzelkämpfer kann ein guter Lehrer sein. Eine Schule, bestehend aus Lehrern, die alle Einzelkämpfer sind, wird keine gute Schule sein«, erwiderte sie und betonte das unabdingbare Miteinander. »Eine gute Schule lebt davon, dass Beziehungen gestaltet werden. Beziehungen zwischen den Kolleginnen und Kollegen, die sich unterstützen und beraten, die sich austauschen und gemeinsam vorbereiten. (…) Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und Lehrerinnen und Lehrern, die gemeinsame Werte entwickeln und leben können, die gemeinsam Probleme lösen und Erfolge miteinander feiern können, sind entscheidende Voraussetzungen« und waren in ihren Augen untrennbar verbunden mit »der einzelnen Beziehung der Lehrerin und des Lehrers zu jeder Schülerin und jedem Schüler (…), damit jede und jeder einzelne immer wieder über sich hinauswachsen kann, fachlich und persönlich«.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 06/2023.