Es gibt sie: Orte der Innovation im Friedhofswesen. Was – unreflektiert – absurd klingen mag, gehört zur unverwechselbaren DNA des Ohlsdorfer Friedhofs in Hamburg: Seit seiner Gründung vor 150 Jahren wird hier Trauer und Erinnern immer wieder neu gedacht, um Veränderungen in der Gesellschaft Rechnung zu tragen und Menschen zeitgerechte Möglichkeiten des Abschiednehmens oder Gedenkens zu ermöglichen. Dabei setzt man in Ohlsdorf Maßstäbe – national wie international, und das seit der Gründung: Als im späten 19. Jahrhundert die Bevölkerungszahlen der prosperierenden Hansestadt explodierten, musste ein neuer Friedhof her, der bis heute der größte Parkfriedhof der Welt ist – und sicherlich auch einer der schönsten.

Neu war damals nicht nur die schiere Größe: Vor allem das Konzept, die Gräber in eine Parklandschaft einzubetten und so im urbanen Umfeld eine grüne, naturnahe Erinnerungslandschaft zu gestalten, war bahnbrechend. Bis heute ist genau dies ein Alleinstellungsmerkmal der Friedhofskultur in Deutschland.

»Freundlich und lieblich soll alles dem Besucher entgegentreten«, schrieb der Erschaffer des Friedhofes Wilhelm Cordes zur Einweihung 1897. Bereits einige Jahre später war ein so beeindruckendes Gesamtkunstwerk aus Natur, Kunst und Technik entstanden, dass der Parkfriedhof auf der Pariser Weltausstellung 1900 einen »Grand Prix« für Gartenkunst erhielt.

Das riesige Gelände in Stadtteilgröße – rund vier Kilometer lang und eineinhalb Kilometer breit – bietet dabei kein durchgängig einheitliches Bild – im Gegenteil: Zum Konzept gehörten von Beginn an verschiedene Areale, angepasst an landschaftliche Gegebenheiten, unterschiedlich bepflanzt und mit verschiedenen Bestattungsformen verbunden. So gab es schon früh ein Rosarium und eine Teichanlage oder auch den heute sogenannten »Millionenhügel«, ein beeindruckendes Begräbnisareal für Privilegierte mit repräsentativen Mausoleen, Statuen und Gedenkstätten.

Diesen Ansatz unterschiedlicher Begräbnisareale hat man stets weiterentwickelt und den Bedürfnissen der Zeit angepasst. So begann man in den 1990er Jahren, Räume für Bestattungsangebote mit ganz unterschiedlichen Ausrichtungen im Einklang mit der Natur und der Bepflanzung zu schaffen. Es entstanden die ersten baumbezogenen Gräber wie die Apfelbaumhaine – Bestattungsareale also, die unter einem bestimmten Thema stehen.

Mit diesem Konzept der Themengrabstätten, das man heute auf allen großen deutschen Friedhofsflächen findet, begann man sich zugleich vom klassischen Doppelgrab zu lösen. Seitdem tragen Gemeinschaftsgrabanlagen den sich verändernden Lebenskonzeptenjenseits von Ehe und Familie Rechnung. Auf dem großen Friedhof entstanden so viele kleine »Mikro-Friedhöfe« – und der bedeutendste unter ihnen ist ohne Zweifel der »Garten der Frauen«.

Dieser »himmlische Seelengarten«, wie ihn seine Gründerin Rita Bake beschreibt, ist ein betretbares Geschichtsbuch über Hamburger Frauengeschichte, ein Gartenparadies der Erinnerung und ein letztes Ruheareal speziell für Frauen. Die Idee dahinter ist so einfach wie überzeugend: die Leistungen und Verdienste von Frauen auch über den Tod hinaus sichtbar zu machen und die Erinnerung vor allem an bedeutende Frauen der Stadtgeschichte Hamburgs wachzuhalten. Die Historikerin wollte zunächst nur historisch wichtige Grabsteine von Frauen erhalten – daraus erwuchs im Jahr 2000 der Verein »Garten der Frauen«, der heute von 500 weiblichen Mitgliedern getragen wird und ein weltweit einmaliges feministisches Projekt betreibt. Auf dem 1.600 Quadratmeter großen Gelände nordöstlich des Ohlsdorfer Wasserturms ist eine vielseitige Ruheoase entstanden. Hier werden nicht nur Grabsteine von bedeutenden Frauen zusammengetragen: Ein »Gedenkglaswürfel« erinnert an die verstorbenen Säuglinge und Kleinkinder von Zwangsarbeiterinnen, die zwischen 1943 und 1945 auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet wurden. Des Weiteren hält eine »Erinnerungsspirale« die Namen von wichtigen Frauen fest, für die kein Gedenkstein existiert. Wie umfassend das Konzept von Rita Bake ist, die für den Garten der Frauen 2018 das Bundesverdienstkreuz erhielt, zeigt sich darin, dass auch weiblichen Opfern häuslicher Gewalt gedacht wird. Den Betreiberinnen dieses besonderen Friedhofsareals ist es ein Anliegen, an Frauen mit unterschiedlichsten Lebensgeschichten zu erinnern. Dazu zählen nicht nur Künstlerinnen, Politikerinnen oder Akademikerinnen, sondern beispielsweise auch Frauenerwerbsarbeiterinnen – »nicht anerkannt, gering bezahlt, aber notwendig«, wie es Bake beschreibt. Hinzu kommen Erinnerungsstätten für weitere Frauen der Stadthistorie wie NS-Widerstandskämpferinnen oder Leitfiguren der Frauenbewegung.

So kommt es, dass man hier genauso an die Märchenerzählerin Charlotte Rougemont erinnert wie an die Prostituierte und Streetworkerin Domenica Anita Niehoff; an Maria Gleiss, eine der ersten deutschen Ärztinnen überhaupt, genauso wie an Agathe Lasch, die als erste Frau an der Universität Hamburg einen Lehrstuhl erhielt und als Jüdin von den Nationalsozialisten deportiert und in den Tod getrieben wurde.

Im Garten der Frauen ist der Blick aber nicht nur rückwärts gerichtet. Die Frauen im Verein können sich zu Lebzeiten einen Platz in den Gemeinschaftsgrabanlagen der wunderbar bepflanzten und gepflegten Anlage sichern. Sie treten damit zugleich als Mäzeninnen auf, die die vielfältigen Aktivitäten fördern, zu denen beispielsweise auch Kulturveranstaltungen auf dem Friedhof zählen.

Der Garten der Frauen ist dabei längst nicht das letzte Projekt mit großer Innovationskraft auf dem Friedhof Ohlsdorf. Bereits seit 2014 treibt man unter dem Titel »Ohlsdorf 2050« die Weiterentwicklung mit intensiver Bürgerbeteiligung voran. Dabei geht es z.B. um Nachhaltigkeit und Naturschutz, aber auch um Naherholung und soziales Miteinander. Der Friedhof Ohlsdorf bleibt also auch künftig nicht nur ein besonders schöner und facettenreicher, sondern auch ein überaus spannender Kulturraum.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 10/2023.