Der Markt für Brettspiele in Deutschland wächst kontinuierlich. 193.000 Spielbegeisterte aus der ganzen Welt besuchten 2023 die Messe SPIEL in Essen. Der Kritikerpreis »Spiel des Jahres« ist weltweit ein Prädikat für ausgezeichnete Titel. Jährlich werden ca. zwei Millionen Spiele in öffentlichen Bibliotheken ausgeliehen. Es gibt kaum einen Haushalt, der nicht zumindest ein paar Brett- und Kartenspiele besitzt. Insgesamt bietet das Medium Spiel ein breites inhaltliches Spektrum. So erschienen im September und Dezember 2023 zwei lange Artikel zu Spielen mit gesellschaftspolitischen Themen in der Süddeutschen Zeitung (SZ). Ein guter Anlass, die Rolle von analogen Spielen in unserer Gesellschaft in Bezug auf die Entwicklung demokratischer Kompetenzen näher zu beleuchten.

Denn Brettspiele entstehen nicht in einem kulturellen Vakuum. Wer Spiele entwickelt, gestaltet und veröffentlicht, ist stets beeinflusst von den jeweiligen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die in analogen Spielen zu findenden Thesen und Themen wirken zurück in die Gesellschaft und leisten dadurch einen Beitrag zu gesellschaftlichen Diskussionen. Für Romane und Filme ist dies nichts Neues, und in letzter Zeit wurde dieser Umstand in Bezug auf digitale Spiele herausgearbeitet. Die zwei Beispiele aus der SZ zeigen in hervorragender Weise, wie auch in Brettspielen politische Themen verhandelt werden.

»Weimar – Der Kampf um die Demokratie«

Wie schnell unsere Gesellschaft von demokratiefeindlichen Kräften bedroht werden kann, lehrt uns unsere Geschichte. Das Spiel »Weimar – Der Kampf um die Demokratie« von Matthias Cramer lässt die Spielenden in die Zeit der ersten deutschen Republik reisen. Sie schlüpfen in die Rolle von Parteien und müssen ihre jeweiligen Interessen vertreten. Die NSDAP ist hier eine ständige Bedrohung, die das Spiel zu einem frühzeitigen Ende kommen lassen kann. Daniel Wüllners Fazit in der SZ: »Es ist ein System, das politische Zusammenhänge spielerisch erfahrbar macht.« Damit spricht er einen zentralen Punkt an. Brettspiele lassen die Spielenden zu Handelnden in einer Spielwelt werden, die immer auch Bezug zur Realität hat. Im Gegensatz zu anderen Medien wie Filmen oder Romanen können die Spielenden hier eine eigene Wirkmächtigkeit erfahren. Das geschieht dabei nicht allein, sondern mit anderen Menschen an einem Tisch.

»e-Mission« – gemeinsam gegen den Klimawandel

Die Themen Umwelt und Ökologie waren schon in den 1980er Jahren in Spielen präsent, hier allerdings vor allem im Zuge von aktivistischen Projekten. In den letzten Jahren tauchen die Themen Natur und Umweltschutz vermehrt in Titeln für ein breites Publikum auf. Ein besonders herausragendes Beispiel ist »e-Mission«. Das kooperative Brettspiel von Matt Leacock und Matteo Menapace lässt uns zusammen gegen die Erderwärmung antreten. Hierbei müssen wir nicht nur die Produktion grüner Energie erhöhen, sondern auch die der fossilen Energie senken und dafür sorgen, dass Wälder und Meere genug CO2 binden. Das Spiel macht durch seine Regelsysteme deutlich, dass ein Kampf gegen die reale Gefahr des menschengemachten Klimawandels nur gemeinsam gelingen kann, und vermittelt gleichzeitig ein Verständnis für mögliche Lösungsansätze und Handlungsoptionen im wirklichen Leben.

Gemeinsam spielen als kulturelle Praxis und politischer Akt

In der Welt des Spiels zeigen sich die Kompetenzen der Spielenden in der Art, wie sie am Spieltisch agieren und reagieren. Die Fähigkeit, Regeln unter Berücksichtigung der jeweiligen Spielsituation zu beachten und umzusetzen, erfordert geistige Flexibilität. Individuelle Ausgangslagen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Kompetenzen müssen entwickelt und gelernt werden: Genau hier liegt die Brücke zur Demokratiefähigkeit.

Demokratiefähigkeit meint die Fähigkeit, demokratische Prinzipien zu verstehen, zu akzeptieren und in der Praxis umzusetzen. Grundlegende Werte und Prinzipien müssen bekannt sein und anerkannt werden. Die Förderung von Demokratiefähigkeit erstreckt sich über verschiedene Ebenen, von Bildung, Partizipation und Stärkung der Zivilgesellschaft bis zur Entwicklung von Medienkompetenz.

Analoge Spiele fördern Demokratiefähigkeit in einzigartiger Weise: Wer Brett- oder Kartenspiele spielt, lernt unter anderem Regeln zu verstehen und zu akzeptieren, die durch die Regeln gesetzten »Spielräume« zu nutzen sowie ggf. einzelne Regeln zu hinterfragen und durch gemeinsam vereinbarte, sogenannte »Hausregeln«, anzupassen. Diese aktive Auseinandersetzung mit Regeln fördert demokratisches Denken.

Das gemeinsame Erarbeiten von bestehenden Regeln, das Aushandeln von Unklarheiten und das Treffen von Vereinbarungen spiegeln demokratische Prozesse wider. Dabei muss man sich darauf verlassen können, dass alle Spielenden diese Regeln akzeptieren und sich an diese halten.

Kooperative Spiele verstärken dieses Erleben, indem sie durch gemeinschaftliche Entscheidungen alternative Spielverläufe ermöglichen. In der Spielgruppe, auf Augenhöhe am Tisch, spielen Hierarchien keine Rolle. Das unmittelbare Miteinander fördert Empathie und die Fähigkeit zur Aushandlung von Sanktionen bei Regelverletzungen. Spielen eröffnet Räume, in denen man lernen kann, mit den unterschiedlichsten Reaktions- und Verhaltensweisen der Mitspielenden umzugehen.

Analoge Spiele haben darüber hinaus eine integrative Kraft, die Menschen unterschiedlicher Herkunft, Generationen, Schichten und Interessen an einem Tisch zusammenbringt. Analoges Spielen fördert daher nicht nur Kompetenzen, sondern auch den Austausch zwischen verschiedenen sozialen Gruppen – eine entscheidende Voraussetzung für eine gelingende Demokratie. In diesem Kontext zeigen »Weimar« und »e-Mission« beispielhaft, wie moderne Brettspiele komplexe demokratische Prozesse simulieren und erlebbar machen. Das gemeinsame Spielen analoger Spiele ist daher weit mehr als nur Unterhaltung. Es fördert Demokratiefähigkeit, schafft ein Bewusstsein für Regelstrukturen und ermöglicht den unmittelbaren Austausch zwischen verschiedenen Individuen. In einer Zeit, in der unsere Demokratie verteidigt werden muss, ist gemeinsames Spielen daher nicht nur eine kulturelle Praxis, sondern kann auch als politischer Akt betrachtet werden.

Praktische Konsequenzen

Trotz dieser Erkenntnisse über die förderliche Rolle analoger Spiele für demokratische Kompetenzen fehlen vielfach praktische Konsequenzen in der gesellschaftlichen Praxis.

Beispielsweise wird das Projekt »Spielen macht Schule« von allen 16 Kultusministerien und der Spielwarenbranche unterstützt, bei dem sich Grundschulen um die Ausstattung eines Spielzimmers bewerben können. Aber es mangelt an dem systematischen Einsatz in allen Bildungseinrichtungen sowie an einer umfassenden öffentlichen Förderung. Die Stärkung öffentlicher Bibliotheken als »Dritte Orte« mit Sonntagsöffnung ist im Koalitionsvertrag festgehalten. Auch hier können analoge Spiele eine integrative Rolle bei der Vermittlung demokratischer Kompetenzen spielen.

Im Februar 2023 erschien die Studie »Extrem einsam? Die demokratische Relevanz von Einsamkeitserfahrungen unter Jugendlichen in Deutschland« im Rahmen des Bundesprogramms »Demokratie leben!«. Dort heißt es: »Besonders einsame junge Menschen neigen dazu, antidemokratische Einstellungen zu entwickeln.« Bibliotheken, soziokulturelle Zentren, Schulen und private Initiativen bieten dabei Räume und vielfache Ansatzpunkte für eine Förderung durch Bund, Länder und Kommunen. In diesem Zusammenhang würde es sich anbieten, den gerade verlängerten Kulturpass auf den Kauf von analogen Spielen zu erweitern.

Im Bereich der Wissenschaft zeigen Projekte wie »Empamos« an der TH Nürnberg oder »Boardgame Historian« das ungenutzte Potenzial, das in der Erforschung analoger Spiele – auch in Bezug auf ihre aktuellen Anwendungsmöglichkeiten – steckt. Doch im Gegensatz zu über 80 digitalen Games-Studiengängen gibt es kein institutionalisiertes Angebot für analoge Spiele an deutschen Hochschulen.

Ein weiteres Element könnte die Einbindung der ca. 160 deutschen Verlage für analoge Spiele in das Cluster der Kultur- und Kreativwirtschaft beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz sein, um die Basis dieses Kulturguts – inklusive deren Urheber – stärker ins Blickfeld von Fördermaßnahmen zu rücken.

Analoge Spiele werden in ihrer gesellschaftlichen Funktion und trotz ihrer wachsenden Bedeutung nach wie vor kaum in Politik und Kultur wahrgenommen. Neben der nicht vorhandenen institutionalisierten Förderung fehlt es auch an einer gemeinsamen Stimme, die wirksam für dieses Kulturgut eintritt und dessen gesellschaftliches Potenzial aufzeigt. Eine noch zu gründende »Stiftung Analoge Spielkultur« könnte dafür ihren Beitrag leisten und damit auch die Demokratie in unserem Land stärken.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 2/2024.