Die 60. Kunstbiennale in Venedig hat eröffnet. 88 Nationen präsentieren sich, viele Länder in eigenen Pavillons, auch Deutschland. Seit über 50 Jahren übernimmt das Institut für Auslandsbeziehungen die maßgebliche Rolle bei der inhaltlichen Positionierung. Çağla Ilk, die Co-Direktorin der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, verantwortet 2024 den Deutschen Pavillon. Die ausgewählten Künstlerinnen und Künstler befassen sich auf intensive Weise performativ und bildnerisch mit Themen wie Migration und kollektivem Gedächtnis, insbesondere Ersan Mondtag. Migration ist eines der zentralen Themen unserer Zeit. Es gibt verschiedene Formen der Migration. Menschen verändern ihren Lebensmittelpunkt aus politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Not, aber auch freiwillig. Mondtags Bezugspunkt ist die Geschichte seines Großvaters, der in den 1960er Jahren aus Mittelanatolien nach Westberlin kam und sich dort als Migrant seine Existenz aufbaute. Er kreuzt die postmigrantische Geschichte mit vergessenen Biografien der arbeiterlichen Geschichte der DDR. Er hat tonnenweise Aushub vor den Eingang schaufeln lassen, symbolisch für anatolische Erde; im Innern hat er ein kleines Geisterhaus bauen lassen, in dem das Leben seines Großvaters mit seinen leidvollen Erfahrungen vermittelt wird. Deutlich wird ein Bild der Nicht-Zugehörigkeit, des Fremdbleibens – und das mit starken Emotionen.

Im Haus der Kulturen der Welt in Berlin hat zum Thema der Migration jetzt auch eine Ausstellung eröffnet, bei der es um ausländische Vertragsarbeiter und politische Migranten in der DDR geht. Auch die DDR konnte ohne ausländische Arbeitskräfte nicht auskommen. Es waren um die hunderttausend, vor allem aus Vietnam, aber auch aus Angola, Kuba, Mosambik und Syrien. Sie lebten meist separiert in Wohnheimen, in sehr beengten Wohnverhältnissen, mit ausbeuterischen Arbeitsverträgen. Mit dem Ende der DDR waren sie auf einmal überflüssig, sie wurden abgeschoben, Vietnam nahm viele Vertragsarbeiter nicht zurück, sie saßen in ihren Wohnheimen fest. Die Bilder von den gewaltsamen Attacken gegen sie in Hoyerswerda 1991 gingen um die Welt.

Deutschland ist aber nicht nur ein Zuwanderungsland für Arbeitskräfte. Es gibt längst Musiker, Schriftsteller, Filmemacher und Bildende Künstler nichtdeutscher Herkunft, die zu uns kommen. Wie ist deren Aufnahme erfolgt, wie waren die Bedingungen für eine künstlerische Betätigung, welche Hürden und Chancen bestanden?

Seit Jahren ist die Musik der Arbeitsmigranten und -migrantinnen eine neuartige Form der deutschen Musik. Diese musikalische Kultur hat die Migration nach Deutschland begleitet und zugleich als eigene Musikform entwickelt, mit großen Unterschieden zu den Herkunftsländern. Die Lieder spiegeln die Lebensumstände wider, Aufbruch und Ankommen, Entwurzelung und Heimat, die krude Arbeitswelt und die Abweisung. Zunächst wurden sie von der deutschen Kulturindustrie überhört. Mit der Erfolgsgeschichte des Hip-Hop kam der Durchbruch für die zweite und dritte Generation von Musikerinnen und Musikern. Die Doku von Cem Kaya »Songs of Gastarbeiter – Liebe, D-Mark und Tod«, die die Geschichte der einzigartigen Musik türkischer Gastarbeiter und ihrer Enkelkinder erzählt, wird in diesem Jahr mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet. Acht Jahre nach dem Erfolgsalbum »Songs of Gastarbeiter« von Imran Ayata und Bülent Kullukcu gibt es inzwischen eine großartige Fortsetzung. Ayata und Kullukcu haben das musikalische Erbe der ersten sogenannten Gastarbeiter-Generation gehoben. Inzwischen gibt es Entwicklungen, wie beispielsweise das Bridges Kammerorchester, das Orchestermitglieder für europäische Klassik, klassische arabische wie persische Musik, osteuropäische und zeitgenössische Musik zusammenführt und eine einzigartige, sich ständig weiterentwickelnde transkulturelle Klangsprache kreiert. Es gehört zu den Preisträgern des Hessischen Integrationspreises und wurde kürzlich für gelebte Diversität und Integration mit dem höchstdotierten Kulturförderpreis Deutschlands ausgezeichnet, The Power of the Arts.

Auch unter den Filmemachern gibt es inzwischen herausragende Beispiele erfolgreicher Geschichten von Migration. Der deutsche Regisseur Ilker Çatak wurde mit seinem Film »Das Lehrerzimmer« dieses Jahr für den Oscar nominiert. Der Filmemacher Fatih Akin, in Hamburg geboren, seine Eltern kamen in den 1960er Jahren nach Deutschland, hat mit Filmen wie »Gegen die Wand«, »Soul Kitchen« und »The Cut« Filmgeschichte geschrieben. Mehdi Sahebi, Thomas Arslan, Filippos Tsitos, Daphne Charizani, Nadya Derado, Buket Alakuş und andere ergänzen die Riege der Filmemacher. Anders als in den Migrationsfilmen der 70er und 80er Jahre mit dem Aufeinanderprallen abgegrenzter Kulturen stehen im Zentrum der 90er und der folgenden Jahre offene Formen des Zusammenlebens.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die wachsende Bedeutung der Schriftsteller, die durch die Verleihung des Chamisso-Preises durch die Robert Bosch Stiftung seit 1985 einen Bekanntheitsgrad erfuhren, der sie zu wichtigen Vertretern der deutschsprachigen Literatur machte. Der Preis zeichnete Autoren deutschsprachiger Literatur aus, deren Werk von einem Sprach- und Kulturwechsel geprägt ist. In der Begründung für die Namensgebung hat Harald Weinrich, der Initiator des Chamisso-Preises, einen klaren Bezug zu Chamissos literarischer Figur Peter Schlemihl hergestellt. Er schrieb: »Bei der Option Chamisso (…) sollte deutlich werden, dass die Autoren auf dem Weg in die deutsche Literatur ihren Schatten nicht einbüßen sollten.«

Anfangs wurde noch der Begriff der Migrantenliteratur verwendet. Damit wurde ein Phänomen benannt, das für Deutschland neu war, im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder den USA. Über die Jahre hinweg hat sich die Bandbreite und öffentliche Sichtbarkeit literarischer deutscher Texte von Autoren mit Migrationshintergrund erheblich weiterentwickelt. Heute geht diese Literatur immer mehr in Deutschland auf, die Autoren wollen sich weder ausgrenzen noch einen Sonderstatus haben. Sie verstehen sich als literarische Vertreter einer lebendigen literarischen Kultur in Deutschland. Feridun Zaimoglu, Saša Stanišić, Terézia Mora, Ann Cotten, Cyrus Atabay, Yōko Tawada oder María Cecilia Barbetta und andere bereichern unsere Literatur mit neuen Bildern, Metaphern und Themen. Der Chamisso-Preis ist inzwischen nicht mehr erforderlich.

Während in der Musik, im Film oder in der Literatur die Künstlerinnen und Künstler zunehmend präsent waren, gilt das für die Kunstszene weit weniger. Diesem Thema widmet sich jetzt eine Ausstellung im MMK (Museum für Moderne Kunst) in Frankfurt am Main. Viele der gezeigten Künstlerinnen und Künstler sind trotz ihrer unbestrittenen hohen künstlerischen Qualität dem Publikum weitgehend unbekannt. Kunst in der Zeit der Vertrags- und Gastarbeit untersucht gleichzeitig die Komplexitäten und Nuancen der Geschichtsschreibung der DDR und der Bundesrepublik, hinterfragt auch die Museumsstrukturen und vermittelt die Bedingungen der künstlerischen Schaffensprozesse. Es geht insbesondere um die 1960er und 1970er Jahre. Themen sind das Leben in der Fremde, der Einsatz für die politisch Verbündeten der im Heimatland Verbliebenen, Einschränkungen demokratischer Freiheiten, aber auch Positionen zu den Bedingungen des neuen Landes. Die strukturelle Ausgrenzung drängte die Kunstschaffenden an den Rand des Kunstbetriebs. Umso eindrucksvoller ist die Qualität dieser Ausstellung. Es ist verdienstvoll, dass sie in dieser überzeugenden Form zustande kam.

Diese Beispiele zeigen, dass sich Kultur in einem spezifischen Umfeld und Kontext entwickelt. Dabei geht es nicht nur um die der ethnischen Landeskinder, sondern um die Menschen, die in Deutschland leben und arbeiten, sich für Deutschland entschieden haben und auch an der Kultur teilhaben wollen. Es muss einer offenen demokratischen Gesellschaft darum gehen, nicht Kultur als Reservat zu schützen, sondern Entwicklungen aufzunehmen und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Dazu gehört auch eine Kultur der Teilhabe für die Zugewanderten und ihre Folgegenerationen, die sich zu Deutschland bekennen. Das ist eine konstruktiv verstandene Integration.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.