Was haben »Dahnsdorfer LPG«-Geschichten, ein »Wutspektakel« (Duisburg), die Stadtgestaltung mit örtlichen Klimadaten (Rostock), die »Tonspur der Einwanderungsgesellschaft« (Stuttgart) und »Friedland erzählen« gemeinsam?

Es sind Kulturprojekte mit gesellschaftlicher Mit-Wirkung, die der Fonds Soziokultur fördert. Ihr »Markenkern« ist, dass Menschen, angeregt und gestalterisch befähigt durch Kulturschaffende, ein für sie relevantes Thema konstruktiv bearbeiten. Diese Gestaltung wird öffentlich sichtbar. Es entstehen Audiotouren ehemaliger Mitarbeiterinnen in leerstehenden Industriebrachen, Stationen-Theater im Stadtteil unter Beteiligung der Freiwilligen Feuerwehr und von Imbiss-Besitzerinnen, Filmclips von Menschen mit und ohne internationale Biografien; Spoken Word über Glücks- und Unglücksgefühle trifft sich im Netz und verbindet weit entfernt lebende Menschen miteinander.

Angeregt wird ein Dialog, eine Kommunikation aller Beteiligten. Aber auch eine Auseinandersetzung eines entsprechenden Kulturpublikums mit den kulturell bearbeiteten, anlassbezogenen Themen. Diese gehen einen direkt etwas an, und man kennt mitunter den ein oder anderen Mitwirkenden, der sich mit überraschenden Talenten zeigt.

Es entsteht hierbei an so vielen Orten in städtischen und ländlichen Räumen ein außergewöhnliches und identitätsstiftendes Kulturleben, wo sonst wenig oder gar keine kulturelle Infrastruktur existiert. Durch das utopische Potenzial der Künste und kulturellen Ausdrucksformen ist dieses Vorgehen konstruktiv, offen neugierig und respektvoll – nicht konfliktfrei, aber produktiv statt destruktiv. Das Grundanliegen dieser Form »kultureller Demokratie« ist es, Wege für ein faires und wach gestaltetes Zusammenleben zu finden. Hierfür ist das im Mai 2024 gestartete Pilotprogramm »Techlab: Soziokultur« des Fonds Soziokultur ein besonderes Beispiel. Das experimentelle Programm hat der Fonds in Kooperation mit der European Space Agency und der entsprechenden Abteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) gestartet. Die Fragestellung: Wie können wir mit Geodaten, Navigationstechnik, digitaler Kommunikation und KI aus der Gesellschaft herausarbeiten und ein Problem aus der Umgebung lösen? Die Ideen der zwölf beteiligten soziokulturellen Teams reichen von der klimafreundlicheren Stadt über barrierefreie Kulturbesuche bis zu Kultur-Assistenzen und Vernetzungssystemen im ehrenamtlich geprägten ländlichen Raum. Einmal mehr zeigt sich das Potenzial der soziokulturellen Fachkräfte, das Möglichkeitsdenken der Künste sektorübergreifend, sozusagen mit einem weiten Begriff von Kulturverantwortung einzusetzen. In der Wirtschaftswelt hieße so etwas »Investition in Forschung und Entwicklung«.

Für derartige partizipative Kulturarbeit ist ein demokratisches Grundverständnis konstitutiv. Es geht davon aus, dass jeder Mensch grundsätzlich kompetent ist, sein örtliches, persönliches und soziales Umfeld produktiv mitzugestalten.

Der kulturpolitische Terminus dazu lautet »Kulturelle Teilhabe«. Längst geht es aber nicht mehr nur um ein einseitiges Teilhabenlassen an Kulturveranstaltungen der Kunstprofis; sondern angesichts komplexer gesellschaftlicher Herausforderungen um eine vielseitige Zusammenarbeit auf Augenhöhe. In der Kunst und Kultur können dabei Visionen und Utopien konkret sichtbar werden – in der Soziokultur sind es bestenfalls die Visionen und Utopien aller Bürgerinnen und Bürger. Hier stehen insbesondere die Menschen im Mittelpunkt, die keine leichten Zugänge in der Gesellschaft, zu kultureller Bildung, zu Mitbestimmung und einem positiven Selbst- und Fremdbild haben. Schon immer gilt: Wer nach seiner eigenen Geschichte und Erfahrung gefragt wird und erlebt, dass sie relevant ist in der Umgebung, in der Gesellschaft, fühlt sich gehört und gesehen. Wem zugetraut wird, bei globalen Herausforderungen Lösungen für die eigene Nachbarschaft, Stadt, Region mitzudenken, der fühlt sich ermächtigt.

Zivilgesellschaft übernimmt Verantwortung

Die jetzige Regierungskoalition hat durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, BKM die sechs Bundeskulturfonds, also auch den Fonds Soziokultur in ihrer Bedeutung als Innovationstreiber in diesem Jahr finanziell gestärkt; ein ausgesprochen wichtiges und gutes Signal. Denn es ist strukturell ein demokratischer Faktor, die zivilgesellschaftlichen Organisationen gerade in ihrer Nähe zur Gesellschaft, aber dem subsidiären Abstand zum Staat zu stärken und ihnen die Aufgabe der Mitgestaltung und der Reflexion von Wirklichkeiten anzuvertrauen. An Ideen und Motivation im Feld mangelt es nicht, im Gegenteil: Die Antragszahlen der Regelprogramme des Fonds Soziokultur haben sich in den letzten vier Jahren außerhalb des BKM-Programms Neustart Kultur nahezu verdoppelt. Die Vorhaben der Projekt-, Prozess-, Nachwuchsförderung und internationalen Kooperation (UK-GER) greifen alle Themen auf, mit denen wir täglich global, regional und lokal beschäftigt sind: gleiche Zugänge zu Bildung, Kultur, Gesundheit, Diskriminierung, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Zuwanderung, Wegzug, Klimawandel, Schließung des letzten Schwimmbads und in diesem Jahr sehr deutlich die Landtagswahlen in den Bundesländern. Die kulturellen Initiativen und Einrichtungen kümmern sich um die Demokratie vor Ort und mittendrin, wenn sie es strukturell und finanziell können. Sie sind Plattformen des Polylogs, sie öffnen kulturelle Reflexionsräume, in denen Unterschiedlichkeiten, Gemeinsamkeiten und Konflikte bildreich, respektvoll und mitunter spielerisch betrachtet werden.

Demokratie ist großartig und anstrengend. Immer. Die gute Nachricht: Wir leben in einer talentierten, kompetenten, weil diversen Gesellschaft. Um das sichtbar machen zu können, braucht es noch mehr konstruktive, Fantasie ermutigende Plattformen und Settings.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.