Barbara Haack: Über das Thema »Staatsziel« wird seit vielen Jahren diskutiert. Die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« hat seinerzeit einstimmig für die Aufnahme des Satzes »Der Staat schützt und fördert die Kultur« in das Grundgesetz gestimmt – auch die Vertreter der Union haben dafür gevotet. Heute betrachtet die Union das Thema skeptisch bis ablehnend. Was spricht aus Ihrer Sicht gegen die Aufnahme dieses Satzes in das Grundgesetz?

Christiane Schenderlein: Die Gesamtgemengelage spiegelt das, was Sie sagen, so nicht wider. Es gab das Ergebnis der Enquete-Kommission. Doch dieses ist jetzt schon 20 Jahre her, seither hat sich vieles weiterentwickelt. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass der Staat auch ohne ein Staatsziel Kultur handlungsfähig und sogar in der Lage ist, ein umfassendes Unterstützungsprogramm auf den Weg zu bringen. Das Neustart-Kultur-Programm und die Ausfallfonds für die Kulturveranstaltungen waren erfolgreiche Instrumente, die die Kulturbranche durch diese schweren Zeiten gebracht haben.

Aktuell müssen wir uns fragen, wo wir stehen. Es gab 2023 eine Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien des Deutschen Bundestags, die lediglich die Überschrift »Staatsziel Kultur« trug. Es gab keine Diskussionsgrundlage seitens der Ampel-Fraktionen, die an dieser Stelle in der Initiative gewesen wären, einen Vorschlag zu unterbreiten. Der Satz, den Sie eingangs genannt haben, steht so gar nicht im Koalitionsvertrag, sondern er ist dort erweitert um den Begriff Vielfalt. In der Anhörung fehlte die textliche Grundlage.Daher hatten wir im Rahmen der Anhörung besonderen Wert auf die verfassungsrechtlichen Fragen und Diskussionen gelegt. Uns war es wichtig, die Positionen der Rechtspolitiker in die Debatte einfließen zu lassen, da alle Staatsziele stets gemeinsam mit ihnen zu beraten sind. Das spiegelte sich auch in unserer Expertenberufung wider. Auch vor 20 Jahren gab es nach der Enquete-Kommission keine Einhelligkeit innerhalb der Fraktion, sondern von jeher – und das zeichnete sich auch in anderen Fraktionen ab – unterschiedliche Positionen bei Verfassungsrechtlern und Fachpolitikern. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Hinzu kommt, dass es eine gewisse Unklarheit darüber gibt, was aus den Staatsziel-Bestimmungen folgenden Forderungen anbelangt. Gleiches gilt für die Frage, welche und wie viele Staatsziele man überhaupt in das Grundgesetz aufnehmen kann. Ist es nicht hilfreich, das Grundgesetz so schmal aufgestellt zu belassen, wie es aktuell ist? Im Kulturbereich liegt die Hoheit bei den Ländern und gar nicht in erster Linie beim Bund. Was würde ein Staatsziel Kultur daran konkret verändern? All diese Fragen müssen aus unserer Sicht vorab geklärt werden.

In der Coronazeit hat es, wie Sie sagen, auch ohne dieses Staatsziel im Grundgesetz funktioniert, aber es gab viel Überzeugungsarbeit zu leisten, und es hat auch eine Weile gedauert. Wäre es nicht sinnvoll, gerade für solche Fälle eine gewisse Absicherung und Verlässlichkeit für die Kultur zu haben?

Es zeigt vor allem ein Anerkennen innerhalb der Politik, dass Deutschland eine Kulturnation ist und Kunst sowie Kultur untrennbar auch mit unserer Identität verbunden sind, dass es unsere Aufgabe auf Bundesebene ist, den kulturellen Reichtum und das kulturelle Erbe zu schützen und zu erhalten. Das bedeutet aber nicht, dass man immer damit gleich auch das Staatsziel in Verbindung bringen muss. Wir müssen jetzt sehen, wie der Prozess weitergeführt wird. Meiner Meinung nach bräuchte es dringend ein Gespräch mit den Ländern zu der Thematik, welches nach meinem Kenntnisstand noch nicht stattgefunden hat.

Sie haben gerade schon gesagt, dass die Ampel eine neue Formulierung in ihren Koalitionsvertrag geschrieben hat: »Wir wollen Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankern und treten für Barrierefreiheit, Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit ein.« Wie stehen Sie dazu?

Der Begriff Vielfalt ist von allen Verfassungsrechtlern sehr kritisch gesehen worden. Diese Formulierung passt mit den verfassungsrechtlichen Argumenten nicht zusammen, da sie zu unbestimmt und zu schwammig ist.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.