Wohl vor kaum einer Wahl in der Geschichte der Bundesrepublik wurden so viele Wahlaufrufe gestartet wie vor der anstehenden Europawahl, den Kommunalwahlen in neun Bundesländern und den Landtagswahlen in den drei ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Unternehmensvertreterinnen und -vertreter unterstreichen, wie wichtig der europäische Einigungsprozess ist, dass Deutschland Zuwanderung braucht und Vielfalt ein Gewinn für dieses Land ist. Gewerkschaften positionieren sich unmissverständlich und verdeutlichen, dass Betriebe wichtige erste Orte der Integration sind. Sie machen darauf aufmerksam, dass das Betriebsverfassungsgesetz das Wahlrecht für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schon vorsah, als andernorts noch von Gastarbeitern gesprochen wurde. Sportvereine zeigen sich besorgt, dass ihre Gremien von Rechtsextremisten unterwandert werden und überlegen, wie sie dem entgegenwirken können. Die Kirchen erklären, dass ein AfD-Mandat und eine Mitgliedschaft in kirchlichen Gremien unvereinbar sind, da die Würde des Menschen unantastbar ist. Bekannte Persönlichkeiten schließen sich zusammen und formulieren Aufrufe, mit denen sie für die freiheitliche Demokratie werben. Neue Bündnisse werden gebildet, um insbesondere die Akteure vor Ort zu stärken.

Dies alles zeigt, Berlin ist nicht Weimar, es gibt viele demokratische Kräfte, die für die freiheitliche Demokratie eintreten und in einer modernen Gesellschaft leben wollen. Das ist die eine Seite. Die andere sind Angriffe auf Politikerinnen und Politiker, auf Mandatsträgerinnen und -träger, auf Engagierte in Vereinen und Zusammenschlüssen. Besonders erinnerlich ist die Ermordung des Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Kassel, Walter Lübcke am 2. Juni 2019, also vor fünf Jahren. Der Täter, ein Rechtsextremist, gab als Tatmotiv den Einsatz von Lübcke für Geflüchtete an. Im Mai dieses Jahres wurde der SPD-Kandidat für die Europawahl, Matthias Ecke, beim Aufhängen von Wahlplakaten krankenhausreif geschlagen. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt konnte nach einer Veranstaltung ihr Auto nicht verlassen. Als Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck nach dem Jahreswechsel 2024 bei der Rückkehr aus seinem Urlaub eine Fähre verlassen wollte, war dies aufgrund eines aufgebrachten Mobs nicht möglich. Die Fähre musste umkehren und andere Passagiere wurden mit in Geiselhaft genommen. Proteste vor dem Wohnhaus der niedersächsischen Landwirtschaftsministerin Miriam Staudte waren ein trauriger Höhepunkt der sogenannten Bauernproteste gegen die beabsichtigte Streichung der Dieselsubventionen.

Dies sind nur einige der bekannten Vorfälle, in denen Politikerinnen und Politiker einschließlich ihrer Familien Bedrohungen ausgesetzt sind. Das meiste wird gar nicht erst bekannt, findet unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung statt.

Dass Menschen sich unter diesen Bedingungen nicht für die Übernahme von politischer Verantwortung in Wahlämtern, hauptamtlich und ehrenamtlich, bereit erklären, sollte eigentlich nicht verwundern. Insbesondere in Ostdeutschland besteht ein Mangel an Kandidatinnen und Kandidaten für politische Mandate. Ein Grund ist sicherlich die im Vergleich zu Westdeutschland kleinere Mitgliederbasis der Parteien. Ein anderer, dass immer öfter großer Mut dazu gehört sich politisch zu exponieren und Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen.

Die Demokratie lebt von Demokratinnen und Demokraten. Das Ende der Weimarer Republik wurde auch dadurch eingeläutet, dass zu wenige kompromissbereit waren, dass es in erster Linie darum ging, die eigene Haltung durchzusetzen.

Berlin ist nicht Weimar. Gleichwohl treibt viele Demokratinnen und Demokraten die Sorge um, dass die demokratische Ordnung nicht mehr selbstverständlich ist, dass Kompromisse als »faul« diskreditiert werden, dass schnelle Nachrichten die gründliche Recherche einholen, dass die Kommunikation einfach nicht gelingt, weil nicht die Bereitschaft besteht, den anderen verstehen zu wollen. Umso wertvoller ist es, dass das breite und einmalige Bündnis der Initiative kulturelle Integration jetzt bereits seit über sieben Jahren stabil zusammenarbeitet. Getragen wird die Initiative kulturelle Integration von ihren 28 Mitgliedern. Hierzu zählen das Bundesministerium des Innern und für Heimat, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die Integrationsbeauftragte und Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien von Seiten des Bundes, die Länder werden durch die Kulturministerkonferenz vertreten und die Kommunen durch die drei kommunalen Spitzenverbände, Deutscher Städtetag, Deutscher Städte- und Gemeindebund sowie Deutscher Landkreistag. Die Sozialpartner, DGB, BDA und deutscher beamtenbund, gehören ebenso dazu wie die Medien, ARD, ZDF, Vaunet, BDZV, Medienverband der freien Presse und Deutscher Journalistenverband. Die Religionsgemeinschaften, Deutsche Bischofskonferenz, Evangelische Kirche in Deutschland, Koordinierungsrat der Muslime und Zentralrat der Juden in Deutschland, zählen ebenso zur Mitgliedschaft wie zivilgesellschaftliche Organisationen, BAG Freie Wohlfahrtspflege, BAG der Immigrantenverbände, Deutscher Kulturrat, Deutscher Naturschutzring, Deutscher Olympischer Sportbund, Forum der Migrantinnen und Migranten sowie neue deutsche organisationen. Die Geschäftsstelle der Initiative ist beim Deutschen Kulturrat angesiedelt.

Vieles trennt auf den ersten Blick diese 28 Mitglieder, die einen repräsentieren den Staat, die anderen das Bürgerengagement, die einen stehen für die Wirtschaft, die anderen für den Non-Profit-Sektor, die einen vertreten Religionsgemeinschaften, die anderen verstehen sich bewusst säkular. Gemeinsam ist den Mitgliedern das Eintreten für eine starke Demokratie, für den »Zusammenhalt in Vielfalt« wie die gemeinsamen 15 Thesen, die 2023 überarbeitet wurden, überschrieben sind. Die Mitglieder der Initiative kulturelle Integration sind keineswegs blauäugig, was die Herausforderungen betrifft. In der Präambel der neu gefassten 15 Thesen steht gleich zu Beginn: »Die Menschen in Deutschland wie in anderen Ländern haben große Herausforderungen zu bewältigen. Die Auswirkungen der Pandemie der letzten Jahre, der fortschreitende Klimawandel, die Globalisierung und geopolitische Veränderungen, die damit verbundenen Migrationsbewegungen sowie der Krieg in Europa und in vielen Regionen der Welt verunsichern auch hierzulande viele Menschen. Bestehende Gewissheiten brechen weg. Vertraute Gewohnheiten werden zunehmend infrage gestellt. Allzu schnell wird dabei vergessen, welche Umbrüche in Deutschland und Europa bereits gemeistert wurden. Ziel des europäischen Einigungsprozesses bleibt es, für ein demokratisches und friedliches Europa einzutreten, das dem kulturellen Austausch dient. – Die Initiative kulturelle Integration steht für eine Gesellschaft, die vorausschauend Herausforderungen annimmt, um sie gemeinsam zu gestalten.«

Mit der Beschreibung der Umbrüche bleibt die Initiative kulturelle Integration aber nicht stehen. Zukunftsgewiss wird in 15 Thesen erläutert, worauf es nach Ansicht dieses gesellschaftlich breiten Bündnisses ankommt, um in Vielfalt zusammenzuleben.

Diese breite Mehrheit zeigt, Berlin ist eben nicht Weimar. Es gibt Demokratinnen und Demokraten, die für die Demokratie eintreten und streiten. Deshalb wird die Demokratie in Deutschland, aller Unkenrufen zum Trotz, Bestand haben!

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024