Der frühere Arbeitgebervertreter und Sozialpolitiker fordert im Interview mit Ludwig Greven, Flüchtlinge so schnell wie möglich in Jobs zu vermitteln, statt sie erst Sprach- und Integrationskurse durchlaufen zu lassen. Deutschland brauche Zuwanderer.

Ludwig Greven: Arbeit, Fleiß, Pünktlichkeit galten lange als deutsche Tugenden. Ist das noch so?

Peter Clever: Solche Grundtugenden, die in Jahrhunderten gewachsen sind, ändern sich nicht so schnell. Aber es gibt eine Verschiebung zur Work-Life-Balance. Das finde ich im Prinzip auch in Ordnung. Dass die Arbeit immer wichtiger sein soll als Privates, ist nicht angebracht. Aber das führt wiederum zu Auswüchsen, zur Life-Life-Balance. Ich halte es für verkehrt, dass man es für eine Zumutung erachtet, Menschen Anstrengungen abzuverlangen. Es gibt kein Glück ohne Anstrengung. Menschen sind darauf stolz, was sie aus eigener Kraft schaffen. Das heißt nicht, dass sie nicht die anderen brauchen. Aber glücklich ist man, wenn man sagen kann: Dafür habe ich mich ins Zeug gelegt und es ist gelungen. Wenn Politik glaubt, den Menschen nichts mehr abverlangen zu können, beraubt sie sie dieser Dimension von Glück und Zufriedenheit. Heute scheint es so: Zunächst wird den Menschen alles gegeben, bis zum bedingungslosen Grundeinkommen, erst danach kommt die Anstrengung. Das ist eine Fehlentwicklung.

Ist Arbeit ein wichtiger Teil der deutschen Leitkultur?

Ja. Viele Menschen kommen gerade deswegen nach Deutschland, weil es als fleißiges Land gilt, in dem man Arbeit finden kann. Deutschland sollte diesen Ruf nicht leichtfertig verspielen. Wenn es Neuankömmlingen leicht gemacht wird, zu leben, ohne sich anzustrengen und zu arbeiten, auch wenn sie es wollen, ist die Neigung nach einer anstrengenden, traumatisierenden Flucht groß, sich dem hinzugeben. Das ist verständlich und menschlich. Daraus ist ihnen kein Vorwurf zu machen. Aber man muss das System so ausbalancieren, dass man von ihnen einerseits eine Eigenleistung verlangt und ihnen zugleich die Hilfen gibt, die sie brauchen. Fördern und fordern: Dieser Grundsatz muss generell gewahrt werden.

Wie wichtig ist Arbeit für die Integration von Migranten?

In einer Erwerbsgesellschaft zeigt sich der Platz in dieser Gesellschaft auch durch die Arbeit. Deshalb gehört es zu den Grundaufgaben, Migranten so schnell es geht die Möglichkeit zu geben, sich einen solchen Platz zu erarbeiten. Deutschland geht da einen Sonderweg. Erst einmal sollen die Menschen ankommen, die Sprache lernen, einen Integrationskurs machen, damit sie sich mit den Gewohnheiten vertraut machen. In anderen Ländern bringt man sie ganz schnell in Erwerbsarbeit. Die Erfahrungen zeigen, dass die Migranten dort besser und schneller integriert werden und sie die Sprache mindestens genauso schnell lernen. Deshalb bin ich froh, dass zumindest die Wartezeit, bevor Asylbewerber arbeiten dürfen, deutlich verkürzt wurde.

Von den mehr als eine Million Menschen, die seit 2015/2016 kamen, sind immer noch Hunderttausende ohne Beschäftigung. Auch von den Kriegsvertriebenen aus der Ukraine arbeitet erst ein Viertel, obwohl die meisten qualifiziert sind. In anderen Ländern ist der Anteil wesentlich höher. Wieso gelingt es Politik und Wirtschaft bei uns so schlecht, Geflüchtete in Arbeit zu bringen?

Das liegt an dem geschilderten System. In Deutschland brauchen wir im Schnitt fünf bis sechs Jahre, bis Flüchtlinge zu 50 Prozent in Arbeit sind. Das ist eine viel zu lange Zeit, in der Integrationschancen vertan werden. Stattdessen sollte man die Menschen sofort in Arbeit vermitteln, auch wenn es vielleicht erst mal nur einfache Tätigkeiten sind, und sie berufsbegleitend in der Sprache und den hiesigen Gewohnheiten unterrichten. Erwerbsarbeit ist der beste Weg zur Integration: mit Deutschen und anderen Migranten zusammenzukommen und zusammenzuarbeiten. Die Bürokratie ist bei uns viel zu stark. So gibt es z. B. große Engpässe bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen. Selbst von erfahrenen ausländischen Ärzten wird oft quasi ein neues Staatsexamen verlangt. Das ist absurd. Wir haben auch viel zu viele Ausländerbehörden, 549, die jahrzehntelang darauf gepolt waren, Migranten fernzuhalten. Da muss man auch mental umpolen und die Anzahl stark reduzieren.

Sollte man alle Migranten bei der Integration in den Arbeitsmarkt gleichbehandeln, ob Asylbewerber und Flüchtlinge oder Arbeitsmigranten?

Man muss unterscheiden zwischen Erwerbsmigranten und Schutzsuchenden. Die einen brauchen wir und sollten wir gezielt anwerben. Die Flüchtlinge können wir uns nicht aussuchen. Sie sollten jedoch in der Zeit, in der sie Schutz finden, ihren Lebensunterhalt ebenfalls selbst verdienen. Aber wir können nicht alle, die hier ein besseres Leben suchen, so verständlich das ist, integrieren.

Viele Flüchtlinge haben keine Berufsausbildung, oft auch nur eine mangelnde Schulbildung. Gibt es für sie überhaupt noch genügend einfache Arbeitsplätze?

Die gibt es. Wir haben lange Zeit von einem Fachkräftemangel gesprochen. Inzwischen haben wir einen allgemeinen Personalmangel, auch bei einfachsten Tätigkeiten, zum Beispiel in der Gastronomie. Ein absoluter Fehler ist, dass Flüchtlinge nicht von Zeitarbeitsfirmen vermittelt werden dürfen. Man tut so, als müsse man damit Ausbeutung verhindern. Dabei sind die gesetzlichen Regeln für die Branche mittlerweile so, dass von Ausbeutung keine Rede sein kann.

Dass viele Flüchtlinge von staatlichen Leistungen leben, bringt Bürger gegen sie auf. Wäre es nicht auch deshalb besser, sie gegebenenfalls auch in öffentlichen Jobs zu beschäftigen?

Ich wäre sehr dafür. Bei uns ist aber schnell von Arbeitsdienst wie in der NS-Zeit die Rede, wenn man darüber diskutiert, Flüchtlinge zu Arbeit zu verpflichten. Man sollte es jedoch vielmehr als Chance sehen, dass diese Menschen sehen, dass sie der Gesellschaft, die ihnen Schutz gewährt, aus eigener Kraft etwas geben. Und wenn es nur das Saubermachen in Sammelunterkünften ist. Das hat nichts mit Zwangsarbeit zu tun, das ist im Grunde etwas sehr Humanes.

Die meisten Flüchtlinge wollen ja auch arbeiten und nicht untätig herumsitzen.

Arbeitsminister Heil spricht jetzt vom »Job-Turbo«. Das ist der richtige Weg: Rückkehr zum Grundsatz des Vorrangs der Vermittlung in Arbeit. Auch gemeinnützige Tätigkeiten dürfen nicht diskreditiert werden, solange die Integration in den ersten Arbeitsmarkt noch nicht gelingt.

Die Ampelkoalition hat ein Gesetz beschlossen, das den Spurwechsel vom Asylsystem in den Arbeitsmarkt erleichtern soll. Funktioniert das?

Der Spurwechsel ist keine einfache Sache. Denn man muss klar unterscheiden: Die einen bemühen sich schon von ihren Heimatländern aus um einen Job in Deutschland und ein Arbeitsvisum. Die anderen suchen Schutz, weil sie verfolgt werden oder Kriegsflüchtlinge sind oder es behaupten. Das darf man nicht über einen Kamm scheren. Auf keinen Fall darf man jemanden, der als Wirtschaftsflüchtling kommt, gegenüber demjenigen belohnen, der den anstrengenden Weg einer legalen Einreise unternimmt. Das Problem ist nur, dass dieser legale Weg oft nicht funktioniert, weil die Menschen ein Jahr oder mehr auf einen Termin in einer deutschen Botschaft warten müssen, um ein Visum zu beantragen. Deshalb ist der Reflex schnell da, den Spurwechsel zu erleichtern. Das ist ja auch verständlich. Warum sollen wir Leute abschieben, die wir hier gebrauchen können, wenn wir die anderen nicht bekommen? Aber das schafft falsche Anreize, alles zu tun, um auch auf illegalem Weg nach Deutschland zu kommen – im Vertrauen darauf, dass man dann hier arbeiten darf. Gut ist daher, dass nun ab 2025 alle Arbeitsvisa digitalisiert werden sollen. Das soll die Botschaften entlasten und die legale Arbeitsmigration erleichtern. Ich hoffe sehr, dass es auch geschieht und praxistauglich funktioniert.

Würde das den Druck in das Asylsystem vermindern? Denn für Nicht-EU-Bürger gibt es ja seit dem Anwerbestopp in den 1970er Jahren kaum mehr Möglichkeiten der legalen Arbeitseinwanderung.

Ich halte das für einen entscheidenden Hebel. Aber dafür müsste unser Perfektionismus, etwa bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen, abgebaut werden. Wenn ein Arbeitgeber sagt, der passt auf meinen Arbeitsplatz oder ich investiere in ihn, damit er darauf passt, sollte nicht eine Behörde darüber entscheiden, ob seine Ausbildung gleichwertig ist mit einer deutschen. Denn es ist ganz klar: Ohne starke Zuwanderung kommen wir nicht mehr klar. Auch unsere Sozialsysteme nicht. Wenn wir nicht mehr Beitragszahler auch aus dem Ausland bekommen, verstärken wir unsere eigenen sozialen Probleme. Der Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in den vergangenen Jahren kam nur durch Nicht-Deutsche. Das zeigt: Wir brauchen Zuwanderung, auf legalem Weg, und die muss unbedingt erleichtert und entbürokratisiert werden.

Ist Arbeit auch in anderen Bereichen, zum Beispiel für Menschen mit Behinderung, ein entscheidendes Mittel der Integration und Inklusion?

Absolut. Es wird noch viel zu oft gesagt: behindert gleich leistungsgemindert. Das ist ein Vorurteil, das überhaupt nicht stimmt. Es gibt Behinderungen, die bestimmte Tätigkeiten nicht zulassen. Aber dann kann man eine dieser Behinderung entsprechende Beschäftigung finden. Das muss auch noch stärker den Arbeitgebern nahegebracht werden. Gerade weil sie Personalnot haben, sollten sie Menschen mit Behinderung bei der Personalsuche einbeziehen und nicht von vorneherein aussortieren. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit: den Menschen, die in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, eine ihren Talenten angemessene Arbeit zu geben. Diese Menschen können eine Bereicherung für viele Betriebe sein, auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

Vielen Dank.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.