Barbara Haack: Die Grünen haben in Wahlprüfsteinen 2005 und 2009 ein »Staatsziel Kultur im Grundgesetz« gefordert. Im aktuellen Koalitionsvertrag steht: »Wir wollen Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankern.«

Die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« hatte sich in ihrem Abschlussbericht einstimmig für die Aufnahme eines Satzes: »Der Staat schützt und fördert die Kultur« in das Grundgesetz ausgesprochen. Warum streben Sie nun eine erweiterte Formulierung an?

Awet Tesfaiesus: 75 Jahre nach der Verkündung des Grundgesetzes ist es höchste Zeit, Kultur als Staatsziel in unserer Verfassung zu verankern.

Die Formulierung »Der Staat schützt und fördert die Kultur in ihrer Vielfalt« drückt aus, dass wir den Verfassungsauftrag zum Schutz und zur Förderung der Kultur erkennen und dass sich dieser auf Kultur in all ihren Erscheinungsformen erstreckt. Die Vergangenheit lehrt uns, dass Diversität und Entwicklungsoffenheit mit staatlichen Mitteln und Gesetzen eingeschränkt oder gar unterdrückt werden können, wenn diese nicht in der Verfassung vereidigt werden.

Die Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages hat sich bereits in der 15. Wahlperiode einstimmig für Kultur als Staatsziel im Grundgesetz ausgesprochen. Hier knüpfen wir an die Diskussionen zum Zwischenbericht »Kultur als Staatsziel« von 2004 an. Wir sind der Meinung, dass das Missbrauchspotential, Kultur eindimensional auszulegen, zu groß wäre, wenn wir uns beim Wortlaut auf einen singulären Kulturbegriff beschränken. Denn die eine Kultur gibt es nicht. Die Formulierung stellt auch klar, dass es unsere Aufgabe ist, Freiräume für künstlerische Kreativität und neue Erscheinungsformen von Kunst und Kultur zu sichern und gleichzeitig die reiche kulturelle Tradition und damit die Wurzeln des heutigen Kulturlebens zu erhalten und zu pflegen.

Kultur in allen ihren Dimensionen ist das Fundament für die geistigen und ideellen Dimensionen menschlichen Daseins. Der Staat muss diese schützen und fördern. Eine verlässliche staatliche Finanzierung der Kultur bildet zugleich eine Grundlage dafür, dass von der Kunstfreiheit aus Artikel 5 Absatz 3 GG Gebrauch gemacht werden kann. Sie erleichtert es auch, dass sich die Zivilgesellschaft für eine Förderung von Kunst und Kultur engagieren kann. So ist ein Staatsziel Kultur bei Abwägungsentscheidungen gerade auch angesichts knapper werdender Haushaltsmittel ein gewichtiges Argument für die angemessene Wahrung kultureller Belange.

Sehen Sie eine Chance, das Staatsziel Kultur im Grundgesetz noch in dieser Legislatur-periode umzusetzen?

Die Regierungsfraktionen sind mit einem Versprechen im Koalitionsvertrag angetreten und halten an der Wichtigkeit und Dringlichkeit dieses Vorhabens fest. Jetzt gilt es, für die Grundgesetzänderung zu überzeugen. Denn die Argumente sprechen für sich: Ein Staatsziel Kultur wäre als bindendes Verfassungsrecht von Gerichten, Verwaltung und Regierung zu beachten, etwa bei der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern oder bei der Auslegung von Gesetzen. Es würde die Verantwortung des Staates mit Blick auf das kulturelle Erbe unterstreichen und auch die Kommunen und Länder und ihre Selbstverwaltung stärken. Die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in das Grundgesetz wäre eine wegweisende Verantwortungsbekundung, die es mit Blick auf das Erstarken der Verfassungsfeinde dringend braucht.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.