Barbara Haack: Die Aufnahme eines Staatsziel Kultur im Grundgesetz ist seit langem ein Thema. Sie waren Mitglied der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, die einstimmig dafür plädiert hat, den Satz »Der Staat schützt und fördert die Kultur« ins Grundgesetz aufzunehmen. Sie haben sich immer, auch noch einmal bei der Anhörung im Kulturausschuss des Bundestags 2023, als deutlicher Fürsprecher für die Aufnahme dieses Satzes ins Grundgesetz gezeigt. Wie stehen Sie heute dazu?

Hans-Joachim Otto: Die Gründe, die 2007 zu einem einstimmigen Beschluss der Enquete-Kommission geführt haben, sind in keinem einzigen Punkt weggefallen; sie sind, im Gegenteil, verstärkt worden. Seit dem Jahr 2007 hat es mindestens drei Ereignisse gegeben, die zusätzlich zu den damaligen Argumenten dafürsprechen, dass wir ein Staatsziel Kultur brauchen.

Wir sehen durch vielfältige Einflüsse heute eine noch stärkere Zersplitterung der Gesellschaft; wir erleben problematische Tendenzen, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. In einer solchen Situation gibt es, wie es Ralf Dahrendorf ausgedrückt hat, eine Notwendigkeit sinnstiftender Bindungen an kulturelle Werte.

Der zweite Punkt ist die Coronakrise, die bewiesen hat, dass insbesondere die selbstständigen Kulturschaffenden in sehr schwierige Situationen geraten können und wir auch die Zivilgesellschaft motivieren müssen, für diesen Bereich Engagement zu zeigen, sich noch stärker als bisher auch materiell für Kultur und Kulturschaffende einzusetzen. Das dritte ist ein juristisches Argument: Der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2021 hat dazu geführt, dass das Staatsziel Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen der Gesellschaft unglaublich gestärkt wurde. Im Gleichklang damit müssen jetzt auch die kulturellen Lebensgrundlagen gestärkt werden, weil Kultur und Natur gelegentlich in einen gewissen Zielkonflikt geraten können. Wenn ein Staatsziel dazu führt, dass der Gesetzgeber, aber auch die Verwaltung in der Ausübung ihres Ermessens beeinflusst und auch gebunden werden, dann ist es fatal, wenn nur die natürlichen Lebensgrundlagen in dieser Weise geschützt werden, aber nicht die kulturellen.

Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass es bis heute aussteht?

Natürlich müssten Sie diese Frage in erster Linie an diejenigen richten, die es verhindern. Ich habe diese Frage auch meinen Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion gestellt, die damals sehr maßgeblich dazu beigetragen haben, dass wir diese einstimmige Entscheidung in der Enquete bekommen haben. Die Befürchtung von Verfassungspuristen besteht darin, dass wir das Grundgesetz überfrachten. Deswegen ist es sehr nachteilig, dass manche nicht nur das Staatsziel Kultur fordern, sondern das gleich noch kombinieren mit weiteren Staatszielen. Das hat die Durchsetzbarkeit des Staatszieles Kultur mit Sicherheit nicht gestärkt.

Was würde sich denn konkret ändern? Ein Gegenargument lautet, dass sich sowieso nichts ändern würde, dass es z. B. nicht mehr Geld für die Kultur gäbe.

Wir wissen vom Staatsziel Natürliche Lebensgrundlagen, dass durch ein solches Staatsziel nicht nur der Gesetzgeber aufgefordert ist, dies mit Leben zu erfüllen; es gibt vielmehr, und das ist wahrscheinlich in der Praxis von noch größerer Bedeutung, auf der Verwaltungsebene zusätzliche Ermessens- und Abwägungsspielräume. Die Haushalte in Deutschland sind momentan sehr angespannt. Die Haushaltgeber von der kommunalen bis zur nationalen Ebene müssen abwägen, worauf sie die vorhandenen finanziellen Ressourcen konzentrieren. Wenn die Kultur dabei nicht zu den anerkannten Staatszielen gehört, dann ist das insofern nachteilig, als die Haushaltsspielräume damit verengt werden. Solange es kein Staatsziel Kultur gibt, verengen sich in dem Bereich der Freiwilligkeit, im Bereich der Ermessensentscheidungen, die Spielräume für die Förderung von Kunst und Kultur ganz erheblich. Und es gibt auch einen Wettbewerb um Ressourcen außerhalb öffentlicher Haushalte. Wenn ich ein Staatsziel Kultur schaffe, dann ist das ein ganz klares Signal an die Zivilgesellschaft, mehr zu tun für Kultur und Kulturschaffende.

Im aktuellen Koalitionsvertrag wird das Staatsziel Kultur auch gefordert, aber in einer etwas anderen Formulierung: »Wir wollen Kultur in ihrer Vielfalt als Staatsziel verankern.« Wie stehen Sie zu dieser Formulierung? Ist sie möglicherweise hinderlich für die Umsetzung?

Ich persönlich würde an der ursprünglichen Formulierung festhalten. Ich hätte aber kein Problem damit, auch diese drei Worte »in ihrer Vielfalt« aufzunehmen. Ich fürchte aber, dass das einen Vorwand schafft, insbesondere für die Fraktion der CDU/CSU, sich aus dem damals gefundenen Konsens zu verabschieden.

Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass das Staatsziel Kultur noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt wird?

Ohne CDU/CSU kann es keine verfassungsändernde Mehrheit geben. Und die CDU/CSU-Fraktion hat sich zu meiner großen Enttäuschung bereits in der Sitzung im vergangenen September im Kulturausschuss sehr deutlich von diesem Staatsziel abgesetzt. So dass wir wahrscheinlich in der neuen Legislaturperiode einen neuen Anlauf unternehmen müssen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 6/2024.