Aus Leipzig, dem ehemaligen Zentrum des europäischen Buchhandels, hört man Erstaunliches: Die Universität schafft ihre einzige Professur für Buchwissenschaft ab. Sie nutzt die Gunst des Augenblicks, da der gegenwärtige Stelleninhaber die Altersgrenze erreicht hat, um einen befristet angestellten Wissenschaftler aus dem eigenen Hause zu platzieren. Er hatte bisher mit Buchkultur gar nichts, mit Fernsehen und Social Media aber sehr viel zu tun. Die Universität bemüht den Begriff »Medienwandel« als Zauberwort, um ihre befremdliche Entscheidung zu rechtfertigen. So kann man kleine Fächer auch kaputtmachen: Man trennt sich nicht offiziell von ihnen, sondern besetzt sie gegen den Strich. Von »Untertunnelung« spricht das Börsenblatt Nr. 30/2022, von »Etikettenschwindel« die FAZ am 10. August und »fachfremder Besetzung« die Welt am 7. August.

Seit 2006 hat Siegfried Lokatis das Fach vertreten. Wollte man seine Verdienste aufzählen, müsste man von seinen grundlegenden Arbeiten zur deutschen Verlags- und Buchhandelsgeschichte sprechen und dürfte nicht vergessen zu erwähnen: Was wir heute über die Zensurpraxis der DDR wissen, haben wir zu großen Teilen von ihm erfahren. Zugleich brachte der Leipziger Studiengang qualifizierte Absolventen hervor, für die die Buchbranche zunehmend Bedarf hat – mit akademischem Hintergrund und Einblick in die Arbeitsweise von Lektoraten, Marketing und Vertrieb. Die historische Forschung war hier mit medientheoretischen und praktischen Aspekten bestens verzahnt.

Wichtiger als die vergangenen Verdienste hervorzuheben, ist es, danach zu fragen, was die Buchwissenschaft an diesem Ort künftig leisten könnte. Und da spielt das sogenannte Bibliotop, eine Leipziger Wortschöpfung für die spezifische Mischform aus Museum, Archiv und Bibliothek, eine zentrale Rolle. Lokatis hat es eingerichtet, weil das Leipziger Reclam-Archiv nicht verloren gehen sollte. Es diente bald auch zur Aufnahme von Beständen anderer Verlage wie Volk und Welt oder Weltbühne. Auch vollständige Buchreihen gehören zum Bestand: von »Der jüngste Tag« des Kurt-Wolff-Verlags mit den Erstauflagen Franz Kafkas und Georg Trakls über die fast komplette Inselbücherei bis hin zu »Salto«, Wagenbachs roter Reihe. Sogar Kunstwerke, Plakate, Werbeartikel und Kuriositäten wie ein Langenscheidt-Toaster oder ein Ullstein-Ventilator fehlen nicht. Von besonderem Wert ist eine Fachbibliothek, in die mehrere buchwissenschaftliche Spezialsammlungen eingegangen sind.

Dieses Bibliotop könnte der Nucleus eines interdisziplinären Forschungslabors werden, wenn man denn wollte. In den Kulturwissenschaften werden Texte heute nicht mehr als isolierte Einheiten betrachtet, die immanent zu verstehen wären. Auch Dinge, mit denen sie verbunden sind und die sie mit weiterer Bedeutung aufladen, werden in die Betrachtung einbezogen. Für materiale Textkulturen böten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an. Von Interesse wäre es für die Kommunikations-, Sozial- und Literaturwissenschaften oder Geschichte. Da wäre endlich das Material erreichbar, das Forschung und Lehre so dringend brauchen.

Das Schöne ist: Ganz Leipzig ist eigentlich ein Bibliotop – mit seiner Buchmesse, der Hochschule für Grafik und Buchkunst, seinen Archiven, dem Museum für Druckkunst, dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum und seiner vielfältigen Bibliothekslandschaft einschließlich der Deutschen Bücherei. Die Institutionen sind auf intelligenten Gebrauch ebenso angewiesen wie die Nutzer auf die Bestände. Wer Veränderungen beim Publizieren in der Longue durée bis hin zu Open Access verstehen und sich einem Thema wie »Medienwandel« nicht nur plakativ nähern will, kommt um Leipzig nicht herum. Man fragt sich, warum es an der Universität nicht längst einen Sonderforschungsbereich dazu gibt. Stattdessen sägt man am letzten Stützpunkt, den die Buchwissenschaft an der Universität noch hat.

Die Berufungsliste für die W2-Professur mit dem Hausbewerber auf Platz 1 liegt jetzt beim Wissenschaftsminister in Dresden, der sie bestätigen muss. Dies nicht zu tun, wäre ungewöhnlich, aber dringend geboten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 09/2022.