Rassismuserfahrungen gehören für viele Menschen in Deutschland zum Alltag. Gemäß einer aktuellen repräsentativen Studie des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) geben 65 Prozent der Befragten an, dass sie bereits Berührung mit Rassismus hatten, 22 Prozent davon waren direkt betroffen. Obwohl beinahe die gesamte Bevölkerung (90%) Rassismus als Realität in unserer Gesellschaft versteht, werden rassistische Situationen mit Blick auf muslimische oder muslimisch gelesene Menschen deutlich weniger als »rassistisch« bewertet als beispielsweise Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen.

Mit insgesamt 732 erfassten islamfeindlichen Straftaten und 54 Angriffen auf muslimische Einrichtungen und Repräsentanten sind die offiziell vom Bundesministerium des Innern erfassten Übergriffe seit drei Jahren zwar erstmalig rückläufig (2020: 1026, 2019: 950), Anlass zur Entwarnung geben die offiziellen Zahlen aber nicht. Diese Zahlen sind nur die Spitze des Eisbergs, das Dunkelfeld wird von Expertinnen und Experten auf ein Vielfaches geschätzt. Insbesondere antimuslimischer Alltagsrassismus wird bisher kaum erfasst und bleibt statistisch weitestgehend unsichtbar.

Seit Jahren verweisen Studien auf die weite Verbreitung antimuslimischer Positionen in allen sozialen Schichten und Altersgruppen und warnen vor den Auswirkungen für die Gesellschaft. Vorstellungen der Überfremdung zeigen sich beispielsweise in der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020: Fast jeder zweite Befragte in Deutschland fühlt sich »durch die vielen Muslime hier manchmal wie ein Fremder im eigenen Land«. Antimuslimischer Rassismus ist kein Phänomen der extrem Rechten, sondern in der Mitte der Gesellschaft verankert. Die Grenzen zwischen hasserfüllten Äußerungen und gewalttätigen Handlungen, wie z. B. in Halle oder Hanau, einerseits und dem gesellschaftlich weitverbreiteten antimuslimischen Alltagsrassismus andererseits sind dabei fließend. Gleichzeitig wird die Existenz von antimuslimischem Rassismus im öffentlichen Leben immer wieder geleugnet oder relativiert.

Die Logik des antimuslimischen Rassismus beschreibt der Soziologe Luis Hernandez Aguilar als eine Machtpraxis der sogenannten deutschen Mainstreamgesellschaft, nach der muslimisch gelesene Menschen ihrer vermeintlichen Religion und Kultur nach als sexistisch, gewalttätig, antisemitisch, homophob und demokratiefeindlich eingestuft werden. Hierbei wird muslimisch sein als das Gegenteil von Deutschsein hervorgehoben, auch wenn es um Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft, deutschen Sprachkenntnissen oder solche, die sich selbst als deutsch identifizieren, geht. Kurzum, wo ich »wirklich herkomme«, welchen Glauben ich habe oder aus welchem Grund ich Kopftuch trage, spielt bei antimuslimischem Rassismus keine Rolle. Er betrifft alle Menschen, die als muslimisch gelesen werden. Für die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus ist dieser Prozess seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 verstärkt zu sehen, da die migrantische Gesellschaft in Deutschland und Europa »muslimisiert« und Religion als Marker hervorgehoben worden ist. In diesem Zusammenhang werden Menschen aufgrund eines Merkmals zu einer einheitlichen Gruppe gemacht, also »rassifiziert«.

CLAIM, eine Allianz aus 50 muslimischen und nichtmuslimischen zivilgesellschaftlichen Akteuren setzt sich bundesweit auf unterschiedlichen Ebenen gegen antimuslimischen Rassismus und Islam- bzw. Muslimfeindlichkeit ein. Kern der Arbeit ist unter anderem die Sensibilisierungsarbeit unterschiedlicher Zielgruppen, Stärkung der Zivilgesellschaft im Themenfeld, wissenschaftliche Impulse an der Schnittstelle Zivilgesellschaft und Praxis sowie der Aufbau einer einheitlichen Erfassung und Dokumentation von antimuslimischen Übergriffen und Diskriminierungen.

Vor allem die zivilgesellschaftliche Erfassung von Alltagsrassismus sowie von gewaltvolleren Erscheinungsformen wie Beleidigung, Diskriminierung oder physischen Übergriffen ist essenziell, um Betroffene besser zu unterstützen, gesellschaftliche Entwicklungen zu erkennen und Gefahrensituationen abschätzen zu können. Mit dem Meldeportal I-Report und dem Aufbau einer Kooperationsstruktur zur bundesweiten einheitlichen Erfassung von antimuslimischem Rassismus will CLAIM die Dunkelziffer von antimuslimischen Vorfällen beleuchten und ein gesellschaftliches Problembewusstsein schaffen. Auch Betroffene werden damit bestärkt, ihre Erfahrungen als rassistisch zu benennen, zu melden und ihre Rechte einzufordern.

Mit der bundesweiten Aktionswoche gegen antimuslimischen Rassismus vom 24. Juni bis 1. Juli 2022 macht CLAIM das Problem des antimuslimischen Rassismus für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar. Die diesjährige Kampagne soll dazu anregen, sich mit den eigenen verinnerlichten Rassismen auseinanderzusetzen und diese kritisch zu hinterfragen. Die Kampagne zeigt Assoziationen, die im Kopf von Menschen entstehen, die diskriminierend denken und handeln – meist, ohne sich dessen bewusst zu sein. Gerade antimuslimischer Rassismus zeigt sich häufig im Latenten und Unbewussten.

Die Sensibilisierung von und Anerkennung des antimuslimischen Rassismus ist ein erster Schritt zur Bekämpfung. Weitere weitreichende Maßnahmen als Bestandteil einer umfänglichen Strategie gegen die Rassismen sind notwendig, um die menschen- und demokratiefeindlichen Ideologien, die bis in die Mitte unserer Gesellschaft reichen, zurückzudrängen und die Gleichstellung von muslimischen Menschen und als solche Markierte in all ihren Bedarfen zu gewährleisten.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.