Lange wurde nicht über ihn gesprochen, jetzt scheint er in den gesellschaftlichen Debatten allgegenwärtig – der Rassismus. Dazu gehört auch der Rassismus, der uns allen im Alltag begegnet: Denen, die unmittelbar von ihm adressiert werden, ebenso wie jenen, die ihn ausdrücken, und denen, die einfach danebenstehen und ihn zumindest vordergründig gar nicht bemerken, nicht bemerken müssen. Und gleich schon wird heftig und mit viel Empörung darum gestritten: den einen ist es zu viel, den anderen zu wenig an Aufmerksamkeit für das Thema, an Forderungen nach kritischer Selbstreflexion, zu breit oder zu eng das Begriffsverständnis, überhaupt um die angemessenen Begriffe. Aufgestaute Verletzungen und nun endlich artikulierte Wut, Empörung, Genervtheit, Vorwürfe, Abwehrreaktionen, Übergriffigkeiten, Verteidigung, Schuldzuweisungen … Was ist Alltagsrassismus? Wie drückt er sich aus, wo fängt er an und was kann man gegen ihn tun?
Auf der Straße der ängstliche oder abschätzige Blick, in der U-Bahn der leer bleibende Platz, obwohl die Bahn voll ist, bei einem Angebot einfach ignoriert zu werden, Beschwerden über zu viele Schwarze Menschen auf Werbeplakaten, das etwas peinlich berührte, zugleich überhebliche Schmunzeln bei der Forderung, doch bitte auf das N-Wort zu verzichten, die Empörung über das Anliegen, Straßennamen zu ändern, die den Namen von Generälen mit Blut an den Händen tragen, in der Schule und auf der Arbeit, bei der zweifelnden Frage, ob er oder sie denn das Pensum auch schafft, den vielen Absagen bei der Suche nach einer Wohnung, die Maßregelung auf dem Amt, wenn eine medizinische Behandlung unterbleibt, der Besuch einer Theaterveranstaltung Überraschung erntet, die Erfahrungen rassistisch Adressierter ausblendet, der Besuch eines Abendclubs an der geschlossenen Tür scheitert, obwohl sie für andere öffnet, bei der Fahrkartenkontrolle und den sich neugierig drehenden Köpfe der anderen Fahrgäste, beim Abwimmeln einer Beschwerde als hyperempfindlich und nervig … Der Rassismus im Alltag – diese merkwürdige Häufung von scheinbaren Zufällen von Ignoranz, Ausgrenzung und Abwertung – zeigt sich in allen Bereichen des Lebens, auf verschiedenen Ebenen, jeden Tag, durch den die einen mit selbstverständlicher Leichtigkeit, dem Gefühl und den Erfahrungen des Berechtigt-Seins spazieren, die anderen ein anstrengendes, demütigendes, verletzendes, mal schlummerndes, mal bedrohliches Infrage-gestellt-Werden erleben, das im schlimmsten Fall tödlich enden kann.
Auch wenn dieser Rassismus im Alltag allgegenwärtig ist, ist die Perspektive derjenigen, die von ihm adressiert werden und jener, die ihn adressieren, unbedarft weitertragen und zulassen, höchst unterschiedlich. Während die einen die Macht haben, zu entscheiden, ob und wann sie sich dem Thema Rassismus zuwenden möchten, auch, inwieweit sie ihn ausspielen, sind die anderen ihm ausgesetzt, müssen sich notgedrungen damit beschäftigen, ob sie wollen oder nicht.
Von Mikroaggression zu Gewalt
In der Forschung werden die eingangs skizzierten Alltagsereignisse als Mikroaggressionen beschrieben, angefangen vom Nichtvorkommen, Nichtdrangedacht, dem Ignoriertwerden von Personen, ihren Sichtweisen, Erfahrungen, Wissensbeständen und Bedarfen, über Begrifflichkeiten und Sprachwendungen, kleinen Bemerkungen am Rande, über ein kleines unkontrollierbares, fast unmerkliches und dann doch merkliches ängstliches oder verächtliches Zucken im Gesicht, dem körperlichen Abrücken oder distanzlosem Verhalten, wie etwa anderen ungebeten in die Haare zu fassen. Tatsächlich bewerten Menschen überraschend Ähnliches als harmlos oder aggressiv und tatsächlich hängt die Äußerung solcher Mikroaggressionen mit Aggressivität zusammen, wie die sozialpsychologische Forschung unter anderem von Lisa Spanierman zeigt.
Verhindert die soziale Norm, nicht rassistisch zu sein, kommt dieser Rassismus im Alltag subtil, kalt und indirekt daher, etwa in der vielleicht sogar wohlmeinenden Frage: Woher kommst du? Je nach Kontext drückt sich hier ein Interesse aus, manchmal aber auch Rassismus. In jedem Fall macht sie der Person, an die sie sich richtet, deutlich: Du bist anders, du gehörst nicht dazu. Die pauschale Zuschreibung vordergründig positiver Eigenschaften, die sich einzig an der Physiognomie einer Person festmacht, ist schon deutlicher rassistisch. Hinter vorgehaltener Hand wird der Alltagsrassismus dann noch deutlicher, etwa in der Unterstellung einer »ja ganz anderen Kultur«, die als Begründung herangezogen wird, warum eine Person anders und negativ bewertet wird. Der Sozialpsychologe Andreas Zick verweist auf die Bigotterie als Kennzeichen eines modernen Rassismus: Die Artikulation rassistischer Abwertung, während gleichzeitig behauptet werde, man sei ja kein Rassist, was wiederum die Abwertung erleichtere. Alltagsrassismus kommt aber auch ganz offen daher, durch gehässige Bemerkungen, klar abwertende Stereotype, im schlimmsten Fall Bedrohung und Gewalt. Die rechtsterroristischen Attentate des NSU, von Hanau und Halle sind die prominentesten Fälle, hinzu kommen jedoch viele weitere zum Teil ungezählte und ungesühnte Tötungsdelikte aus rassistischen Gründen. Der Verfassungsschutz weist in seinem Bericht auf Basis der Polizeistatistik 686 fremdenfeindliche Gewalttaten für das Jahr 2021 aus. Zwar sind die Zahlen seit dem Höchststand der Angriffe auf Geflüchtete rückläufig, doch muss nach wie vor von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, bleiben etliche Übergriffe knapp unter der Strafbarkeitsgrenze, kommen nicht zur Anzeige, werden nicht als rassistisch erkannt bzw. nicht als rassistisch kategorisiert; erst seit wenigen Jahren gibt es überhaupt eine solche Kategorie für Hasstaten.
Wen trifft der Alltagsrassismus? Vom wem geht er aus?
Alltagsrassismus ausgesetzt sind Menschen, die als People of Color als anders, ungleich und ungleichwertig markiert werden. Dabei macht sich der Terminus nicht allein an der Hautfärbung fest, sondern spielt auf Machtungleichheiten an. Er umfasst Differenzziehungen entlang Race, Ethnie, Kultur, Religion und Migrationsbiografie. Umstritten ist, inwieweit dieser Sammelbegriff den höchst unterschiedlichen Menschen und ihren jeweils anderen Betroffenheiten gerecht wird. Auch der weitergetragene Rassismus zwischen unterschiedlichen People of Color wird dadurch verdeckt. Hinzu kommen intersektionale Verschränkungen: Schwarze Frauen erleben andere – mitleidige, ignorierende und sexualisierte – Formen von Alltagsrassismus als Schwarze Männer, die eher Misstrauen und offene Aggression erleben.
Wie verbreitet Alltagsrassismus ist, berichtet der kürzlich veröffentlichte Nationale Rassismus Monitor aus Perspektive der Adressierten. Seit vielen Jahrzehnten bemüht sich die vor allem US-amerikanisch geprägte Rassismusforschung Alltagsrassismus in seinen verschiedenen Ausformungen zu erfassen und zu messen, sei es über Beobachtungen und Befragungen, als Einstellung, als Verhalten, über textliche Analysen oder die von Regelungen und Strukturen. In der sozialpsychologisch geprägten Einstellungsforschung wurden diverse Messverfahren entwickelt, um Rassismus zu erfassen, wie er durch die Adressierenden ausgedrückt wird. Jüngst hat Andreas Zick im Rahmen der bevölkerungsrepräsentativen Umfrage der Mitte-Studie 2020/21, durchgeführt im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, eine neue Kurz-Skala vorgeschlagen, entwickelt auf Basis von Alltagsberichten rassistisch Adressierter. Jeder zehnte Befragte war zumindest teils-teils oder sogar eher oder voll und ganz der Ansicht »Für anspruchsvollere Tätigkeiten sind weiße Menschen eher geschaffen als Schwarze Menschen«. Fast zehn Prozent meinten zudem »Wenn sich Schwarze Menschen mehr anstrengen würden, würden sie es auch zu etwas bringen«, weitere 14 Prozent stimmten dem teils-teils zu. Gleichzeitig war der Vorwurf verbreitet: »Schwarze Menschen sind zu empfindlich, wenn von Rassismus in Deutschland die Rede ist.« Dem stimmten 18 Prozent der Befragten eher oder voll und ganz, weitere 28,5 Prozent teils-teils zu. Und fünf Prozent stimmten auch ideologischem Rassismus, weitere rund elf Prozent teils-teils zu: »Die Weißen sind zu Recht führend in der Welt.«
Die Studie bestätigt noch einmal die von dem Pädagogen Wilhelm Heitmeyer 2002 entwickelte Idee eines Syndroms gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit: Wer rassistisch eingestellt ist, neigt mit einiger Wahrscheinlichkeit auch zum Sexismus und Antisemitismus. In der Mitte-Studie bestätigt sich der enge Zusammenhang auch für rechtsextreme und rechtspopulistische Einstellungen der Bevölkerung.
Folgen von Alltagsrassismus
Der Rassismus im Alltag wirkt als kleine Stiche, die sich zu einer tiefen Wunde addieren können. Und das hat für die vom ihm adressierten Menschen Folgen, seelisch und körperlich, aber auch sozial, kulturell, politisch und ökonomisch. Traurigkeit, Frustration und Wut, Stress und Dünnhäutigkeit, damit verbunden auch physische Belastungen und Erkrankungen wie etwa Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Erschöpfung und Kopfschmerzen und entsprechende Stressfolge-Erkrankungen. Sozial kann der erlebte Rassismus im Alltag dazu führen, dass sich Menschen zurückziehen, keinen Mut und keine Kraft finden, sich kulturell oder politisch zu engagieren. Und er hat auch ganz handfeste ökonomische Folgen für die unmittelbar Betroffenen, wenn sie beständige Abqualifizierung erleben und beispielsweise weniger berufliche Chancen erhalten bzw. diese ergreifen können. All dies kann dann wieder als Bestätigung und zur Rechtfertigung rassistischer Stereotype dienen. Folgen hat der Alltagsrassismus auch für die Adressierenden. Sie fühlen sich einerseits aufgewertet und können sich über Alltagsrassismus im Kleineren und Größeren Bevorzugungen und Privilegien sichern, andererseits sind Gehässigkeiten im Alltag auch für sie anstrengend, verstellen den Blick und trüben die Urteilskraft. Die Ausgrenzung führt zu einem Verlust an Ideen, was sich gerade auch bei komplexeren Problemstellungen negativ auf Innovation auswirken kann. Gesamtgesellschaftlich sind die Folgen ein Zurückbleiben hinter den selbst gesteckten Ansprüchen von Würde und Gleichwertigkeit aller Menschen, Verlogenheit, soziale Ungleichheit, Unfrieden bis hin zu Gewalt.
Was tun gegen Alltagsrassismus?
Hinschauen, als Problem erkennen, Verantwortung übernehmen, Handlungsstrategien kennen und dann auch Handeln – das sind die Empfehlungen für Zivilcourage, die sich auch für den Kampf gegen Alltagsrassismus anbieten. Dazu gehört Aufmerksamkeit und Sensibilität, ebenso wie die Bereitschaft und Motivation, sich zuallererst an die eigene Nase zu fassen. Die kulturellen Erbschaften der kolonialen Vergangenheit, vielleicht auch der noch älteren, die Sozialisation in einer von Rassismus durchzogenen Welt macht es unwahrscheinlich, als weiße Menschen nicht auch selbst Rassismus erlernt und übernommen zu haben. Erst recht gilt das für die rassistischen Spuren in Institutionen und Strukturen. Zuvorderst heißt es, People of Color zuzuhören, auch der Frustration und der Wut. Anerkennung des Leids und Stärkung im Sinne eines (Selbst-)Empowerments gehören dazu.
Konfliktfeld (Alltags-)Rassismus
Wer kann, darf, sollte sich zum Rassismus äußern? Sollten gar nur Personen, die von Rassismus unmittelbar betroffen sind, über ihn forschen? Der Rassismus im Alltag wird in verschiedenen Fachdisziplinen untersucht, insbesondere der Sozialpsychologie, den Erziehungs-, Bildungs-, und Literaturwissenschaften. Manchmal geschieht dies multiperspektivisch, manchmal auch in heftigen Angriffen über den »richtigen« Zugang. Alte Animositäten zwischen primär qualitativ oder quantitativ arbeitenden Disziplinen spielen hinein, ebenso wie Unwissenheit voneinander und Verteilungskämpfe um Fördertöpfe.
Dass Rassismus, auch der im Alltag, überhaupt von der Gesellschaft langsam benannt wird, ist dem Aktivismus zu verdanken, der ihn immer wieder zur Sprache gebracht hat und darauf dringt, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Entsprechend stößt er auch auf Abwehr. Wo braucht es ihn, wo nicht? Wo und wem verhilft er zu Gehör, wem gibt er Teilhabe, Kraft und Macht, wen übergeht er dabei vielleicht auch, bügelt sie oder ihn weg, vielleicht sogar jene, die selbst von Rassismus betroffen sind, dies aber nicht artikulieren möchten. Umstritten ist auch, wie sich Aktivismus und Wissenschaft miteinander vertragen – führt er zu neuen Fragestellungen, anderen Zugängen, schärft er den Blick, oder steht Aktivismus in Widerspruch zum wissenschaftlichen Grundsatz der Objektivität, was ist, was kann Objektivität im auch rassistisch geprägten Kontext Wissenschaft überhaupt sein?
Ähnlich stellt sich die Frage für den Kulturbereich, prominent diskutiert etwa bei der Frage, wer wessen Werke angemessen übersetzen kann oder soll. Dies berührt auch die Herausforderung von Normativität generell und bezogen auf solche Normen, die sich aus Demokratie, Menschenrechten, Ethik, vielleicht auch Moral ableiten, die erklärtermaßen die Grundlage bilden (sollen).