Rassismus hat seinen Ursprung in der Etablierung einer Differenz, die »a priori« und somit »im Vorhinein« des Menschseins losgelöst von Erfahrung und Wissen gesetzt wird. Auf diese Weise sichert sich die Gruppe, welche diese Differenz definiert, Macht ohne jegliche Begründung. Rassistische Differenzen stehen in der Tradition von A-priori-Setzungen, die z. B. – jedoch nicht immer – den physischen Körper als vermeintliche Unterscheidungskategorie nutzen und alles das, was Menschsein jenseits der mit der Geburt vorgegebenen Merkmale ausmacht – Erfahrung, Wissen, Expertise, Spiritualität, sexuelle Orientierung und Geist  –, ignoriert. Obwohl ein vernünftiges und kritisches Denkvermögen konträr dieser Logik gegenüberstehen müsste, wurde Rassismus im Zuge der Aufklärung kaum dekonstruiert, sondern häufig ignoriert, oftmals gar bestärkt. Kolonisierung und Sklaverei ließen sich weniger mit Vernunft, eher mit einer A-priori-Differenz begründen, auf welche die Menschheit – so das feige Argument – keinen Einfluss hat. Wer Freiheit genießen darf, das wird innerhalb dieser rassistischen Logik im Vorfeld der Geburt bestimmt und liegt, so die bittere Folgerung, jenseits der Entscheidungshoheit der sonst recht klugen Gedankenwelt, die in der Aufklärung vermittelt wurde. Im Abendland jener Zeit breitete sich daraufhin eine Vorstellung von Freiheit und Gleichberechtigung aus, die nur einem kleinen Teil der Menschheit zugestanden wurde. Neben dieser fatalen Ignoranz der federführenden Diskurse in Europa sind die treibenden Kräfte des Rassismus die zunehmende Weltwirtschaft, welche mithilfe der A-priori-Differenz seit Jahrhunderten schonungslos auf billige Arbeitskräfte zurückgreift und koloniale Plünderungsstrategien durchsetzt; doch ebenso die christlichen Kirchen, welche in der Mission weniger Nächstenliebe und Toleranz denn die Vormachtstellung eigener Interessen und Weltbilder stärkten.

Perfide erscheint im Rückblick auch der Gestus, mit welchem die Hierarchisierung von A-priori-Differenzen auf vermeintlich »natürlichen« Ebenen vollzogen wurde, ihre Motivation sich jedoch allein (kultur-)politisch begründet. Um der »Natürlichkeit« einer Degradierung Wirkungsmacht zu verleihen, wurde die A-priori-Differenz erfunden, welche nicht nur – wie gezeigt  – Menschen im Vorfeld klassifiziert und hierarchisiert, sondern auch deren Ausschluss aus den Räumen von Wissenschaft und Kultur kulturell und wissenschaftlich legitimiert.

Dieses kulturpolitische Vorgehen hat im Verlauf der Geschichte eine Vielzahl an Gruppen heimgesucht. So ist allseits bekannt, dass in der europäischen bzw. westlich-kolonialen Geschichte z. B. Frauen und People of Color die Fähigkeit wissenschaftlichen Arbeitens aberkannt und ihnen schlichtweg der Zugang zu akademischen Räumen verwehrt wurde. Der Ausschluss von den entscheidenden Sphären der Reflexion und des Diskurses, den Akademien und Kulturinstitutionen, untermauert so die Differenz in nahezu allen Bereichen des Ausdrucks, der Sichtbarmachung und Diskursbildung menschlicher Diskussion und Reflexion, wie den Künsten und den Wissenschaften. Mit Blick auf die Kolonialgeschichte wird eine ähnliche Strategie sichtbar. Es gibt unzählige Beispiele innerhalb der Geschichte von Rassismus, die derlei Ausschlussstrategien aufzeigen.

Sowohl in den Wissenschaften als auch den Kulturszenen sind heutzutage nicht nur die Folgen dieser rassistischen Strategie spürbar, vielmehr hat sie ihre Wirkungsmacht längst nicht eingebüßt: Der wissenschaftliche Kanon bevorzugt westliche Sprachen und Wissenschaftsformen und deren Argumentationen und verschließt sich anderen Denkweisen. Mit Blick auf die Kulturszenen wird sichtbar, dass viele Gruppen und ihre Themen immer noch nicht Bestandteil künstlerischen Ausdrucks an hiesigen Institutionen sind. Betrachten wir den Umgang mit Objekten, die in kolonialem Gebaren Einzug in Museen hierzulande gehalten haben, wird deutlich, dass der jeweilige kulturelle präkoloniale Kontext ebenfalls negiert und ausgeschlossen wird, gleichsam die eigentliche Bestimmung des Werks. Beides wird als Differenz gemäß kolonialen und rassistischen Kategorien degradiert und so im doppelten Hegelschen Sinne aufgehoben: Die koloniale Narration samt ihrer Exotismen und Rassismen wird in der Deutung der Museen zementiert und aufbewahrt; geschützt und gesichert vor weiteren Interpretationen, Umgangsweisen und Narrativen jenseits der über Jahrhunderte in kolonialer Manier etablierten Stimmen des akademischen Diskurses und des Feuilletons.

So gehört es zu den gegenwärtig dringlichsten kulturpolitischen und kulturpolitikwissenschaftlichen Handlungsfeldern, Rassismus in seiner Komplexität zu erkennen und zu dekonstruieren. Aufgrund der perfiden Grundstruktur werden unterschiedliche Wege eingeschlagen, die sich weder ausschließen noch gegeneinander ausspielen, vielmehr in einer weitblickenden Vision zusammengedacht werden sollten. Der eine Weg stellt die Dekonstruktion des Rassismus mittels rassistischer Kategorien dar: Da die A-priori-Setzung der rassistischen Differenz oftmals keine vernünftige Debatte zulässt  – ihre Aufhebung zählte ja selbst innerhalb der Aufklärung nicht nachdrücklich zum Handlungsfeld menschlichen Denkens und Reflektierens – kann eine Dekonstruktion innerhalb dieser Logik nur über die Negation der A-priori-Degradierung geschehen. Das hat jedoch zur Folge, dass rassistische Kategorien, Zuschreibungen und Reduktionen abermals zum Zuge kommen, jedoch mit dem Unterschied, Strategien des Empowerments von Gruppen zu fördern, die rassistisch degradiert werden und wurden. Auf diese Weise erhalten diese bewusst einen exklusiven Zugang zu den Gestaltungsräumen der Diskurshoheit, der aufgrund rassistischer Erfahrungen begründet wird. Kulturpolitische Strategien setzen hier z. B. im Bereich der Einführung von Quoten bei Besetzungen von Jurys, Stellen und der Vergabe von Förderungen und der bewussten Schaffung von Kunsträumen an, in denen in erster Linie Menschen mit Rassismuserfahrungen arbeiten können. Allerdings verdeutlichen die postkolonialen Geschichten der letzten Jahrzehnte in vielen Ländern Afrikas, dass dieser Weg schmerzvolle Erinnerungen und Traumata hervorrufen und rassistische Kategorien reproduzieren und auf diese Weise Menschen weiterhin stigmatisieren kann.

Der Weg der Dekonstruktion von Rassismus durch die Sichtbarmachung und Reflexion rassistischer Wirkungsweisen geht zwangsläufig mit Aufarbeitung der Geschichte der Institutionen von Kultur, Politik, Bildung und Kirche einher. Kultur-, Bildungsinstitutionen und Kirchen waren und sind immer noch Orte der Praxis kolonialer und rassistischer Einschreibung und Selbstvergewisserung. Letztlich muss sich jede Institution samt ihren Praktiken der Reflexion der eigenen rassistischen und kolonialen Geschichte stellen. Hochschulen und Universitäten sind hier in der Pflicht neben der Auseinandersetzung mit dem eigenen Kanon und den tradierten Praktiken, Rahmenbedingungen zu schaffen und Methoden zu erarbeiten. Dies ist ohne die Einbindung des Wissens und der Expertise von Gruppen und Ländern mit kolonialen und rassistischen Erfahrungen nicht möglich. Aus kulturpolitischer Sicht sind internationale Kooperationen und Kollaborationen heutzutage gefragter denn je.

Die gegenwärtig angespannte und teilweise recht aufgeladene Stimmung verdeutlicht nicht nur die Dringlichkeit, sondern die Spannungsfelder dieser Dekonstruktionsprozesse, da sie auf allen Seiten Wandlungs- und Aushandlungsprozesse einfordern. Es ist offensichtlich, dass der Versuch, das Apriori des Rassismus als menschenverachtend zu markieren und somit auszuschließen, ein großes Maß an Besonnenheit einfordert, um die Vision einer Gemeinschaft zu ermöglichen, die alle Menschen in ihrer jeweiligen Situation, Perspektive und Geschichte begegnen kann, ohne mithilfe polarer Taktiken, die »einen« gegen die »anderen« auszuspielen. Nelson Mandela hat in Südafrika mit dem Bild der Regenbogennation eine Vision von Vielfalt geschaffen, die zu vielen Erfolgen geführt hat, sich jedoch nicht in Gänze durchsetzen konnten, da einflussreiche wirtschaftliche und politische Eliten diesen Wandlungsprozess nicht mitgegangen sind. Neben der Reflexion und Thematisierung von Rassismus, Apartheid und Kolonialismus setzte Mandela auf die Etablierung einer Vorstellung von Vielfalt, die Degradierung und Ausschluss grundsätzlich nicht duldet und Verschiedenheit als gemeinschaftsstiftend versteht, was ich an anderer Stelle mithilfe von Achille Mbembes Begriffen der »Entähnlichung« und der »Sorge um das Offene« erörtert habe. Kunstschaffen und Wissenschaft werden in dieser kulturpolitischen Konzeption als Orte verstanden, in welchen vielfältige Stimmen und Denkweisen miteinander in Austausch treten und miteinander – durchaus vehement – verhandelt werden. Dabei liegt der Fokus auf dem Wissen, dass jedes Leben an sich ein Kaleidoskop aus diversen Erfahrungen, Erlebnissen und Wurzeln darstellt und jegliche Reduktion und Kategorisierung dieser individuellen Vielfalt nicht gerecht werden kann.

Dieser mehrgliedrige Pfad steht in gewisser Weise dem oben beschriebenen Weg der Dekonstruktion von Rassismus mittels rassistischer Kategorien konträr gegenüber, da dichotome und polare Setzungen sich aufgrund der Vielfalt an Zugängen und Multiperspektiven aufheben. Für die Umsetzung einer Vision jenseits A-priori-Differenzen und deren Degradierungen bedingen sie jedoch einander, wobei Augenmaß und zugleich Weitblick der jeweiligen verantwortlichen Kulturpolitik bei der Bestimmung der Route gefragt sind. Es wird Bereiche geben, in denen mittels Quoten und spezifischen Förderangeboten Stimmen, die z. B. aufgrund von Rassismus marginalisiert wurden und werden, laut werden sollten. An anderer Stelle mag es sinnvoll sein, eine kulturpolitische Strategie kultureller Vielfalt zu etablieren und Räume zu schaffen, in denen die Weltbürgerschaft und das Menschsein an sich und jenseits von Exklusion und polarer Differenzsetzung, durchaus vor dem Hintergrund der Debatten um Nachhaltigkeit, im Mittelpunkt steht. Denn die grundlegende Frage, die sich die Aufklärung aufgrund ihrer Abhängigkeiten von Politik, bürgerlichen Financiers, Kirchen und Adel kaum öffentlich zu stellen gewagt hat, wie alle Menschen mit ihren vielfältigen Erfahrungen und Verortungen in Zukunft friedlich und respektvoll miteinander leben können, muss in den Räumen von Kultur und Wissenschaft debattiert werden. Nur sie kann zum Ziel einer friedlichen Weltgemeinschaft führen, indem sie diese als Vision benennt. In gegenwärtigen Zeiten mag ein Weltfrieden kaum vorstellbar, sogar anmaßend sein. Doch bieten Räume der Künste die Möglichkeit, Visionen einen Raum zu geben, Prozedere durchzuspielen und Ver- und Aushandlungen jenseits politischer Begrenzungen zu führen. Der Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes ist hierfür grundlegend, denn er ermöglicht und schützt die für die Debatte so wichtigen Frei- und Gestaltungsräume. Er sollte nicht nur von den Künsten, den Wissenschaften und dem Feuilleton bewusst akzeptiert und nachdrücklich beherzigt, sondern von der Kulturpolitik weitblickend ernst genommen werden. Visionäre Denk- und Handlungsräume zu ermöglichen, zu welchen die Vielfalt der Gesellschaft nachdrücklich Zugang erhält und in dem so etablierten Gestus von Multiperspektivität und Verschiedenheit A-priori-Differenzen keine Wirkungsmacht entfalten können, sind wichtiger denn je.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 07-08/2022.