Eigentlich nehme ich Petitionen oder andere online organisierte Meinungsversammlungen nicht zur Kenntnis. Aber beim gerade digital warmlaufenden »Kirchenmanifest« (www.kirchenmanifest.de) habe ich eine Ausnahme gemacht. Zum einen geht mich das Thema etwas an, zum anderen habe ich einige der Initiatoren als beeindruckende Fachleute kennen- und schätzen gelernt. Besonders aber hat mich beim Kirchenmanifest fasziniert, wie unterschiedlich, ja gegensätzlich, man denselben Text lesen kann.

Inhaltlich geht es um Folgendes: Deutschland verfügt über einen einzigartigen Reichtum an alten und modernen Kirchbauten. Bislang wurde dieser von den evangelischen und katholischen Kirchenmitgliedern mit ihren Kirchensteuern finanziert (wobei natürlich der staatliche und der zivilgesellschaftliche Denkmalschutz viel mitgeholfen haben). Aber mit dem demografischen Wandel, der nachlassenden Kirchenbindung und der abnehmenden Bereitschaft, Kirchensteuern zu zahlen, wird dies so nicht weitergehen. Viele Kirchengemeinden sind genötigt sich zu überlegen, welche Finanzmittel sie für welche Gebäude einsetzen. Das führt zu harten Entscheidungen: Sakralbauten werden anders oder neu genutzt, ab- und aufgegeben oder abgerissen. Hier setzt das Kirchenmanifest ein. Es zeigt, dass die Zukunft der Kirchbauten die ganze Gesellschaft angeht. Denn Kirchen sind nie nur Kirchen. Sie sind Kulturorte, in denen regionale, nationale und europäische Traditionen aufbewahrt sind. Sie sind Gedächtnisorte, an denen ein Gemeinwesen seiner Geschichte gedenkt. Sie sind Versammlungsorte, an denen auch nichtkirchliche Nachbarn ein eminentes Interesse haben sollten. Deshalb ruft das Kirchenmanifest alle Bürgerinnen und Bürger sowie die politisch Verantwortlichen auf, sich dieser kulturellen und sozialen Zukunftsaufgabe zu stellen. Wer dieses Anliegen unterstützen möchte, kann die Online-Petition unterzeichnen. Vor Redaktionsschluss standen dort schon über 16.000 Namen. Einen praktischen Vorschlag gibt es auch: Kirchbauten, die nicht mehr benötigt würden, sollten in eine Stiftung (oder mehrere) überführt werden.

Am Kirchenmanifest waren die Kirchen nicht beteiligt – besser gesagt, die kirchlichen Amtsträger waren nicht dabei (viele der Initiatoren sind als engagierte Christenmenschen allerdings auch »Kirche«). In den Kirchenämtern hat das Papier nun viele Reaktionen ausgelöst. Ich fand interessant, wie unterschiedlich meine Kolleginnen und Kollegen es gelesen haben – je nach Profession und Verantwortungsbereich. Die Leitungspersonen wären gern vorher informiert und beteiligt worden. Die Juristen reagierten auf die Stiftungsidee nicht unbedingt »amused«: Sollen die Kirchen enteignet werden? Die Architekten hätten es angemessen gefunden, wenn ihre vielfältigen, innovativen und durchaus erfolgreichen Bemühungen erwähnt worden wären. Als Kulturtheologe habe ich mich schlicht darüber gefreut, dass kompetente Menschen versuchen, eine überkirchliche Debatte zu diesem Herzensthema auszulösen und die Politik in die Pflicht zu nehmen. Inzwischen liegt eine ökumenisch abgestimmte Stellungnahme vor, die positiv auf das Gesprächsangebot eingeht, aber zugleich sachliche Kritik am Kirchenmanifest übt.

Am wenigsten hat mich die Stiftungsidee überzeugt. Abgesehen davon, dass sie rechtlich gar nicht umzusetzen ist, ist eine Stiftung eine viel zu starre Rechtsform, als dass sie auf die sich rasant verändernden sowie konfessionell und regional höchst unterschiedlichen Verhältnisse eingehen könnte. Ich glaube, dass ein Kirchbau sich nur dann in die Zukunft führen lässt, wenn Menschen vor Ort dies zu ihrer Sache machen und – mit einer guten organisatorischen und architektonischen Begleitung – eigene, für ihr Gemeinwesen passende Ideen finden. Wo dies geschieht, ist vieles möglich. Wo nicht, helfen weder Stiftungen noch Staatsgelder. Deshalb würde ich an das Kirchenmanifest die Frage stellen, ob es nicht auch Kriterien für einen gerechtfertigten Abschied gibt. Zum Glück sind die ersten öffentlichen Debatten schon geplant.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Politik & Kultur 7-8/2024.